nettime's_slovene_philosopher on Wed, 9 Feb 2000 23:13:07 +0100 (CET) |
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<nettime> Zizek on Haider [in German] |
Die freie Wahl zwischen blauen und roten Tütchen Warum wir es lieben, Haider zu hassen / Von Slavoj Zizek Die Regierungsbeteiligung von Jörg Haiders FPÖ hat im gesamten Spektrum des "legitimen demokratischen" politischen Blocks Entsetzen ausgelöst: von sozialdemokratischen Linken bis zu christlich Konservativen, von Chirac bis Clinton - von Israel mal ganz zu schweigen - haben alle ihre "Besorgnis ausgedrückt. Und viele haben angekündigt, als zumindest symbolische Maßnahme Österreich unter diplomatische Quarantäne zu stellen, bis diese Seuche verschwunden ist oder sich als einigermaßen ungefährlich herausgestellt hat. Manch ein Kommentator sieht in diesem Entsetzen den Beweis dafür, wie stark der antifaschistisch-demokratische Grundkonsens nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa noch ist. Doch ist das wirklich so eindeutig? Zunächst einmal muss man sich in Erinnerung rufen, dass die tonangebende demokratische Politik einen gut versteckten, dabei aber eindeutig erleichterten Seufzer ausstieß, als sich vor einem Jahrzehnt die rechtspopulistischen Parteien in Europa ernsthaft bemerkbar machten. Die Botschaft dieser Erleichterung: Endlich gibt es einen Feind, den wir gemeinsam so richtig hassen können; den wir opfern, ja exkommunizieren können, um unseren demokratischen Konsens zu demonstrieren! Diese Erleichterung muss vor dem Hintergrund dessen interpretiert werden, was gewöhnlich der aufkommende "post-politische Konsens" genannt wird. Das Zweiparteiensystem, die vorherrschende politische Ordnung der post-politischen Ära, täuscht eine Wahlmöglichkeit vor, die es im Grunde gar nicht gibt. Beide Seiten nähern sich in ihrer Wirtschaftspolitik einander an - man denke an Clintons und Blairs Aufwertung "straffer Finanzpolitik zum Leitsatz der modernen Linken: Eine straffe Finanzpolitik fördere das Wirtschaftswachstum, und dieses Wachstum erlaube es, eine aktivere Sozialpolitik zu betreiben im Kampf für eine verbesserte soziale Absicherung, bessere Ausbildung, ein besseres Gesundheitswesen . . . So reduziert sich der Unterschied zwischen beiden Parteien letztlich auf ihre Haltung bei Kulturfragen: multikulturelle, sexuelle und sonstige "Offenheit steht gegen traditionelle "Familienwerte". Bezeichnenderweise ist es die rechte Option, die anspricht und zu mobilisieren versucht, was auch immer übrig geblieben ist vom Mainstream der Arbeiterklasse in den westlichen Gesellschaften - während die multikulturelle Toleranz zum Motto der frisch privilegierten "symbolischen Klassen" wird (Journalisten, Akademiker, Manager . . .). Politische Wahlmöglichkeiten solcher Art - etwa zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten in Deutschland, zwischen Demokraten und Republikanern in den USA - müssen uns ja geradezu an jenes Dilemma erinnern, vor dem wir stehen, wenn wir im Café nach Süßstoff fragen: Überall können wir zwischen Natreen und Saccharin wählen, zwischen blauen und roten Tütchen, und fast jeder hat die eine oder andere Vorliebe; und überall betont dieses lächerliche Festhalten an der eigenen Vorliebe nur die völlige Bedeutungslosigkeit der Alternative. Und gilt nicht dasselbe bei Talkshows, in denen die "Freiheit der Wahl" nur eine Wahl bedeutet zwischen Beckmann und Biolek? Oder bei Softdrinks: Coke oder lieber Pepsi? Es ist allgemein bekannt, dass der Knopf "Türe schließen in den meisten Aufzügen ein funktionsloses Placebo ist; dass er uns nur das Gefühl geben soll, wir könnten irgendwie zur "Beschleunigung" der Fahrt beitragen. Doch drücken wir diesen Knopf, schließt sich die Tür ebenso schnell, als wenn wir nur den Etagenknopf drücken würden. Dieser Extremfall einer vorgetäuschten Mitbestimmung ist die passende Metapher für die Mitbestimmung des Einzelnen in unserem "postmodernen" politischen Prozess. Was uns wieder zu Haider bringt: Die einzige politische Kraft von Gewicht, mit welcher "Wir" antagonistisch auf "Die" erwidern, sind die neue populistischen Rechten - Haider in Österreich, Le Pen in Frankreich, die Republikaner in Deutschland, Buchanan in den USA. Doch genau darum spielen diese Figuren eine Schlüsselrolle: Sie sind die Ausgeschlossenen, die gerade durch diesen Ausschluss (nämlich ihre Nichtakzeptierbarkeit als Regierungspartei) die liberale Hegemonie negativ legitimieren, indem sie als Beweis für deren "demokratische" Haltung dienen. Und so verdrängt ihre Existenz den wahren Kern der politischen Auseinandersetzung, der natürlich das Ersticken jeder radikal linken Alternative ist; und ersetzt diesen durch die "Solidarität" des gesamten "demokratischen" Blockes gegen die Gefahr durch rassistische Neonazis und andere. Darin letztlich beweist sich heute die liberaldemokratische Vorherrschaft, welche durch den sozialdemokratischen "Dritten Weg" vollendet wurde. Genau genommen ist der "Dritte Weg" eine Sozialdemokratie unter der Hegemonie des liberaldemokratischen Kapitalismus - ihr fehlt der subversive Stachel und selbst die letzte Referenz auf Antikapitalismus und Klassenkampf. Entscheidend ist: Die neuen Rechtspopulisten stellen heute die einzige "ernste" politische Kraft dar, welche die Menschen mit antikapitalistischer Rhetorik ansprechen, wenn diese auch nationalistisch, rassistisch oder religiös verbrämt wird. Auf einem Kongress des Front National stellte Le Pen vor ein paar Jahren einen Algerier, einen Afrikaner und einen Juden auf das Podium, umarmte sie und sagte zum Publikum: "Sie sind nicht weniger Franzosen als ich - die Repräsentanten des multinationalen Großkapitals sind es, die ihre Pflicht gegenüber Frankreich vergessen, die die wahre Gefahr für unsere Identität sind!" So heuchlerisch solche Erklärungen auch sind, zeigen sie dennoch, wie sich die populistische Rechte auf genau dem Terrain ausbreitet, das von der "Linken" aufgegeben wurde. Hier spielt die liberaldemokratische Neue Mitte ein doppeltes Spiel: Sie setzt uns rechtslastige Populisten als gemeinsamen wahren Feind vor, während sie in Wirklichkeit die Panik gegenüber der Rechten schürt, um das "demokratische" Feld zu beherrschen; um ihr Terrain abzustecken und um ihre radikalen Gegner auf der linken Seite für sich zu gewinnen und zu disziplinieren. Aber durch Ereignisse wie die Regierungsbeteiligung der Haider-Partei (die, das sollten wir nicht vergessen, vor ein paar Jahren einen Vorläufer hatte: in Italien bildete Berlusconi seine Regierung mit Finis neofaschistischer Alleanza Nazionale) - durch solche Ereignisse erhält die neue Mitte ihre eigene Botschaft in umgekehrter - und wahrer - Gestalt zurück. Die Regierungsbeteiligung der extremen Rechten ist der Preis, den die politische Linke zahlt, weil sie ihrem großen politischen Projekt abgeschworen hat - weil sie den entfesselten Kapitalismus des Marktes als "the only game in town" akzeptiert hat. # distributed via <nettime>: no commercial use without permission # <nettime> is a moderated mailing list for net criticism, # collaborative text filtering and cultural politics of the nets # more info: majordomo@bbs.thing.net and "info nettime-l" in the msg body # archive: http://www.nettime.org contact: nettime@bbs.thing.net