Gerald Raunig on Thu, 10 Feb 2000 20:08:53 +0100 (CET) |
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<nettime> Raunig on Zizek on Haider [in German] |
Süßstoff, Zucker, Antwortvielfalt Politik im und nach dem Zeitalter des Postpolitischen Replik auf Slavoj Zizeks nettime-Kurzessay "Politische Wahlmöglichkeiten solcher Art - etwa zwischen Sozialdemokraten und Christdemokraten in Deutschland, zwischen Demokraten und Republikanern in den USA - müssen uns ja geradezu an jenes Dilemma erinnern, vor dem wir stehen, wenn wir im Café nach Süßstoff fragen: Überall können wir zwischen Natreen und Saccharin wählen, zwischen blauen und roten Tütchen, und fast jeder hat die eine oder andere Vorliebe; und überall betont dieses lächerliche Festhalten an der eigenen Vorliebe nur die völlige Bedeutungslosigkeit der Alternative." (Slavoj Zizek in: Die freie Wahl zwischen blauen und roten Tütchen. Warum wir es lieben, Haider zu hassen) Hier am phantasierten Zentrum der Kaffeekultur, hier in Wien bedient man sich noch immer des Zuckers. Nicht immer freiwillig, aber nahezu ohne Alternative. Du bestellst eine Melange mit Süßstoff; serviert wird ein Kaffee mit Zucker. Du urgierst, du hättest Süßstoff bestellt; die Antwort ist: "Ja, bitte vielmals um Entschuldigung, bring ich gleich". Nach weiteren fünf Minuten beeilst du dich, den Zucker in deinen Kaffee zu werfen, damit er - diesmal nicht wegen des Zuckerersatzes, sondern wegen der zunehmenden Abnahme der Wärme - nicht ungenießbar wird. Das ist, ich schwör's, kein Einzelfall: In vielfältigen empirischen Versuchen ist es mir und vielen Freunden gelungen nachzuweisen, daß, soviel Süßstoff auch bestellt wird, fast immer nur Zucker serviert wird. Es gibt Menschen, die die Grundlage dieses Phänomens in der Struktur der Denkschemata von professionellen KellnerInnen suchen, welche angeblich das Wort "Süßstoff", oder das hier gebräuchliche Synonym "Kandisin" nicht in ihrem "Programm" haben, wie z.B. "Melange", "kleiner Brauner","Sachertorte oder ähnliches. Das sei in der jahrhundertelangen Tradition der Kaffeehäuser einfach ein bißchen zu progressiv. Andere meinen wiederum, daß es eine gefinkelte kleinkapitalistische und suchtmittelverbreitende Taktik sei, bei der Bestellung von "Verlängerten" automatisch - und auch gegen die Regeln der Zubereitung der Wiener Melange - Schlagobers beifügen zu müssen, bei der Bestellung von Kandisin automatisch Zucker. Das wolle der Kunde so, weil er seine Erfüllung jenseits der vorgeschriebenen Moden der spartanischen Zurückhaltung doch im süßen Glück suche. So sicher wie die KellnerInnen in Österreich mir den Kaffee als Zwangsmaßnahme nur mit Zucker servieren, und auch davon ausgehen, daß das dem unbewußten Subcode der Bestellung des Kunden entspricht, so führt die intellektuelle Herbeiwünscherei der "Wende" zwangsläufig zu einem conservative turn, zur Machtübernahme der Rechtsextremen unter der beschwichtigenden Decke mit den Christlich-Sozialen und damit erst zur wahren Wahllosigkeit. In Österreich haben über Monate vor und nach den Nationalratswahlen Medien und führende Intellektuelle die Wende getrommelt. Schnell verschwamm die Kritik an den unglaublichen, aber realen Ausformungen der sozialpartnerschaftlich dominierten Koalition der Mitte mit dem Herbeireden einer "Erneuerung", die aufgrund der Kräfteverhältnisse des österreichischen Parteiensystems groteskerweise nur eine konservative Restauration sein konnte. Denn schon vor den Wahlen war klar: Da es kaum Chancen für eine Mehrheit links der Mitte gibt, war die Alternative zur alten SPÖ/ÖVP-Koalition schlicht und einfach eine Regierungsbeteiligung der rechtsextremen FPÖ. Prompt werden die für sich schon ohnehin fragwürdigen Aussagen der Philosophen-Dandies Rudolf Burger und Konrad Paul Liessmann (s.u.a. die Kontroverse in der Tageszeitung "Der Standard" nach den Nationalratswahlen, z.B. Liessmann, "Die Intellektuellen und ihr Volk", 30. 10.und gettoattack: "Prinzip der Schuldumkehr, 4.11., http://www.derstandard.at/) nun vom neuen Kunststaatssekretär Morak (ÖVP) aufgegriffen und massiv zu einer Apologie für sein Zusammengehen mit einer Partei verwendet, deren Chef er noch fünf Jahre zuvor mit einem deftigen "Raus mit Haider aus Österreich!" bedacht hatte. Die Pointe Zizeks trifft für Österreich also erstens überhaupt nicht mehr zu. Es gibt keinen Pluralismus von einander sehr ähnlichen Möglichkeiten mehr, eine angeblich bedeutungslose Alternative zwischen blauen und roten Sackerln, sondern - spätestens aufgrund der Festlegung eines christlich-sozialen Parteichefs - nur eine einzige Variante: die taktisch motivierte "Normalisierung" der rechtsextremen FPÖ durch die christlich-soziale ÖVP. Was soviel heißt wie: Selbst und gerade wenn ich noch so stark gegen Natreen, Saccharin und deren annähernde Ununterscheidbarkeit auftrete, ich entkomme dem Zucker nicht: die FPÖ ist an der Regierung, Österreich die Avantgarde Europas, die die Exklusion der extremen Rechten aus den Regierungen aufhebt und damit den Dammbruch zu ungekannten Formen politischen Extremismus in Europa verursacht. Zweitens ist auch aus der Erfahrung in Österreich wieder einmal zu lernen, daß das kulturelle Feld als die gesellschaftliche Entwicklung begleitender kritischer Diskurs äußerst leicht Gefahr läuft, in eine affirmative Rolle innerhalb von Schüben der politischen Restauration zu schlüpfen, auch und wohl hauptsächlich wegen der zunehmenden Homogenisierung der Medienlandschaften und einer steigenden Skandalisierungstendenz im integrierten Spektakel, das die Funktion der Intellektuellen auf die von plakativen StichwortgeberInnen zu dezimieren tendiert. Und dennoch und da es nun mal so ist: wie jeder mißlichen Lage sind auch dieser Situation als Krise die Möglichkeitsbedingungen für etwas Besseres immanent. Im Gegensatz der von Zizek zu Recht kritisierten und beschworenen klebrigen Mitte eines Zweiparteiensystems (mit Auswirkungen bis in zivilgesellschaftliche Bereiche) kann sich aus der Polarisierung nicht nur eine neue Position der Sozialdemokratie jenseits der neoliberalen Konzepte des "Dritten Wegs" entwickeln: Noch viel wichtiger wird sein, daß sich ein neues - post-postpolitisches - System von vielfältigen Antagonismen ausbildet, deren Verhandlung umso möglicher wird, soweit die Restbestände zivilgesellschaftlicher Organisation nicht durch kontrollgesellschaftliche Mechanismen zerrieben werden. Und das ist auch hier in Österreich noch längst nicht soweit. Wir sind nicht zuckersüchtig, höchstens 27 Prozent! antagonism versus populism! support the austrian resistance actions http://www.t0.or.at/gettoattack http://www.servus.at/kanal/gegenschwarzblau Gerald Raunig PS. Ich entschuldige mich bei allen KellnerInnen Österreichs für die literarisch zugespitzten Pauschalverurteilungen. --- sektor3/kultur. Eine Konferenz der IG Kultur Österreich zu den zivilgesellschaftlichen Facetten des kulturellen Feldes. 31. März bis 2. April 2000 Wien, Kunsthalle Exnergasse/WUK Infos in Kürze auf http://www.igkultur.at Tel: +43 1 503 71 20 # distributed via <nettime>: no commercial use without permission # <nettime> is a moderated mailing list for net criticism, # collaborative text filtering and cultural politics of the nets # more info: majordomo@bbs.thing.net and "info nettime-l" in the msg body # archive: http://www.nettime.org contact: nettime@bbs.thing.net