Jochen Becker on Wed, 16 Dec 1998 13:54:11 +0100 (CET) |
[Date Prev] [Date Next] [Thread Prev] [Thread Next] [Date Index] [Thread Index]
<nettime> Europaeische Maerkte - Who can translate this text? |
Who would like to translate this text into English? The text will be for the publication of the Shedhalle (Zuerich), the report of the MoneyNations events - and will of course be posted on nettime. thanks, Jochen (and geert) Jochen Becker * Schenkendorfstr.7 D-10965 Berlin tel/fax +49.(0)30.6917970 e-mail: plaan@gmx.net EUROPÄISCHE MÄRKTE Informelle Ökonomie, 'Shopping Tourism' und BasarWirtschaft nach dem Staatssozialismus "Kann der Alien auch für uns ein cooler Freund sein", wie die Spex ihr 11/98-Sonderheft zum 'Loving the Alien'-Kongreß annoncierte? Läßt sich Flucht und Exil wirklich mit Kultur und Mothership-Eskapismus kontern? Soll hier in einer Art stragegischen Weltflucht via Science Fiction eine neue Fremdenfreundlichkeit entwickelt werden was ja als Social Fiction die Debatte weiterbringen könnte - oder gibt sich die Popdiskussion einen migrantischen Reality-Kick? Afro-Deutsche scheinen so fern wie die reichsdeutsche Kolonial-geschichte in Afrika. Wie ein Roland Emmerich auf links bleibt beim Alien-Kongreß das Referenzsystem die USA, wobei ich nicht für deutsche Theorie, jedoch für einen Blick auf lokale Verhältnisse plädiere. Denn nationale Töne von Kraftwerk bis Mike Ink hebeln sich noch lange nicht aus, wenn Kulturstudien entlang einer afrodiasporischen Diskussion in den USA entwickelt oder bei Zuwanderung allein Mexiko thematisiert werden. Wer liebt die Fremdlinge? "MigrantInnen und Flüchtlinge sind in Europa unerwünscht. Nachdem es nahezu unmöglich ist, auf legalem Wege hierher zu fliehen, einzureisen oder einzuwandern, ist die Überschreitung der Staatsgrenzen nur noch 'illegal' möglich und nicht selten mit tödlichen Gefahren verbunden." Für "Menschen wie vom anderen Stern", so wie sie der Aufruf zur Kampagne 'kein mensch ist illegal' kennzeichnet, gibt es offensichtlich keinen geeigneten popkulturell vermittelbaren "Hipness-Faktor". Schweißladen Mit dem Ende des Staatssozialismus in Mittel- und Osteuropa und dem take-over des westlichen Marktregimes hat informelle Ökonomie wie auch ihre wissenschaftliche oder polizeiliche Erkundung Hochkonjunktur. Determiniert als Schattenwirtschaft, Schwarzmarkt und undokumentiertes Arbeitsverhältnis, als Schmuggel oder als Schleppertum geahndete Fluchthilfe, bilden sich hierbei neue Handels- wie Handlungsmuster heraus. Die 'entsozialisierte' Marktwirtschaft der postkommunistischen Staaten befindet sich auf der Suche nach den Lücken des europäischen Marktes, welcher den so Abhängigen eher früh denn nach westlichem Muster spätkapitalistisch gegenübertritt. Nun entwickelt sich im Trikont, in Mittel/Osteuropa sowie zunehmend auch in westlichen Randzonen eine ausgeprägte BasarÖkonomie. Bei der Münchner Veranstaltung [über die grenze] zugleich Auftakt für die Kampagne 'kein mensch ist illegal' berichtete ein Berliner Mitarbeiter der 'Forschungsgemeinschaft Flucht und Migration' (FFM) von einem Warschauer 'Russenmarkt'. Hier würden jährlich Waren und Dienstleistungen im Wert von einer Milliarde Dollar umgesetzt. Rund um das riesige Sportstadion 'Dziesieciolecia' ('Zum Zehnten' Jahrestag der Gründung der Volksrepublik Polen) werden neben den üblichen Waren nun auch Arbeitskräfte aus der Ukraine, Belorußland oder den baltischen Ländern gehandelt sowie in polnischen 'Sweatshops' hergestellte Textilien verkauft. Hier schuften dann jene aus den 'Billiglohnländern' jenseits der polnischen Ostgrenze stammenden Personen mit der schwindenden Hoffnung auf Weiterflucht. "Wer auf dem Landweg nach Deutschland einreist, hat nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts keinen Anspruch auf Asyl. ... Die Richter sagten, die Drittstaatenregelung solle im Hinblick auf eine europäische Regelung und als Beitrag zu einer gerechteren Lastenverteilung verhindern, daß der Ausländer sich ein Asylland aussuche." (Reuter/FAZ, 3.9.97) Trading their way to the west: Pendlerhandel, kurzfristige Jobs, längerfristige Übersiedlung und Migration immer weiter gen Westen lauteten bislang die mittel/osteuropäischen Etappen von Flucht und Migration. Konnten Transitflüchtlinge auf dem Weg nach Westeuropa noch vor kurzem ohne große Probleme im "Wartesaal" Polen Station machen, werden sie nun von militarisierten Staatsorgane beiderseits der SchengenGrenze verfolgt. Während Mittel/Osteuropa zunehmend als BilliglohnWerkbank, Immobilienanlage oder "Schwellenland" für den Absatz von Konsumgütern genutzt wird, werden Armutsflüchtlinge im Zuge der Drittstaatenregelung nun auch von polnischen Behörden aufgegriffen, eingesperrt und abgeschoben. Der in beide Richtungen sich etablierende, grenzüberschreitende und 'wilde' Kapitalismus fördert klandestine Bandenbildung sowie unternehmerische Selbsthilfegruppen. Je nach Interessenslage von Politik und Wirtschaft werden diese als neue Unternehmerschicht und Privatisierer bzw. "organisierte Verbrecher", Mafia, Schleuser und Schmuggler gewertet. Hier scheint die zählebige Mantra informell/illegal/kriminell vorgezeichnet: Durch Entgarantierung, Entrechtung und Strafverfolgung bildet sich eine breit aufgefächerte neue Ökonomie jenseits von Dokumenten, Sozialabgaben und gesetzlichen Regelungen. In allen Nachfolgestaaten des Warschauer Pakts siedelt sich die Quote der "Schattenwirtschaft" im hochprozentigen Bereich an, sodaß hier wohl eher von einem ganz normalen Teilsektor der Ökonomie gesprochen werden kann. Dabei muß allerdings unterschieden werden zwischen einer Überlebensstrategie durch Kleinhandel oder 'wilder' Privatisierung der neuen Technokraten, welche bereits bestehende politische in ökonomische Macht transformieren. An der 'grauen' Privatisierung des renationalisierten "Volkseigentums" durch die Regierung sind insbesondere ehemalige Staatsbedienstete und deren Privatfirmen beteiligt. Das "planning and clanning" vollzieht sich mittels Überführung staatlicher Betriebe in Aktiengesellschaften, durch Geldwäsche oder nie mehr zurückgezahlte Kredite mittels geplanter Konkurse ("KreditMillionäre"). Hierbei stehen kurzfristige Finanzakkumulation statt bleibender Produktionssteigerungen im Vordergrund, wobei gezielt offen gehaltene Gesetzeslücken und nicht etwa 'der Markt' die Regeln definieren. Doch ist der 'Westen' hierbei überhaupt ein geeigneter Maßstab? Um nun nicht das von Innenministerium und Europol politisch eingesetzte Nepper/SchlepperVokabular zu reproduzieren, oder den Durchzug des 'wilden' Kapitalismus zu bestaunen, scheint mir ein Blick auf diese neuen europäischen Märkte nötig. Inwieweit meine ohne direkte Anschauung und durch Lektüre erworbene Kenntnisse hierbei doch wieder nur das staatlich vermittelte 'Bild' vom Osten widergibt, vermag ich nicht zu beurteilen. Statistik potemkinscher Haushalte In der Ukraine beträgt die Inflationsrate 380%, zwei Drittel der BewohnerInnen in der Umgebung von Odessa leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, nur 16% der Landesbevölkerung können von ihren regulären Jobs leben und das Bruttosozialprodukt ist seit 1989 um 59% gefallen. Allerdings und hier zeigen sich die Schwächen von Statistiken ist gerade das Bruttosozialprodukt einer zunehmend informalisierten Ökonomie schwer zu bemessen. Nach Erkenntnissen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) liegt die ukrainische Schattenwirtschaft etwa gleichauf mit dem offiziellen Bruttoinlandsprodukt. Seit 1989 gleichbleibender Verbrauch von Elektrizität oder hohe im Umlauf befindliche Bargeldmengen lassen nämlich den Schluß zu, daß die Hälfte der Wertschöpfung an Steuer, aber auch an umverteilbaren öffentlich Geld für Kultur, Sozialversicherung oder Gesundheitsschutz vorbeilaufen. Nach Einschätzungen des DIW berechnen die Behörden allerdings bis zu 25% des Umsatzes für Lizenzen oder den Schutz vor Kontrollen wiederum vorbei an Steuer und Sozialversicherung sodaß die Möglichkeiten staatlicher Transferleistungen für Arme, Arbeitslose oder Alte äußerst begrenzt sind. "Der Schwarzmarkt gab sich als der wirkliche Markt zu erkennen... Die Bedürfnisse lagen offen zutage, die Schlange starb... Ein Volk, das angeblich von Ökonomie nichts verstand, lernte den Handel im Nu... Die Stadt war zum Basar geworden, Schlag auf Schlag folgte, was zum funktionierenden Markt gehörte: Banken, Börsen, Makler, Geschäfte, Advokaten, Hotels, internationale Verbindungen, offene Wechselkurse, die Embleme und die Ästhetik der internationalen Warenwelt, die freie Bewegung von Menschen. Gütern, Ideen." Karl Schlögel auf den 60. Stadtforum 'Stadtmitte' in Berlin Das Bild vom "Ende der Stadt als staatliche Veranstaltung und der Wiedergeburt der Bürgerstadt", wie es der Historiker im Geiste des Kalten Kriegs entwarf, verklärt die Zwänge einer aus Arbeit und sozialer Absicherung geworfenen Bevölkerung jenseits der alten und neuen Eliten. Nicht "intuitive Vernunft" (Schlögel), sondern blanke Not durch HyperInflation, eingebrochene COMECONMärkte der vormals sozialistischen Wirtschaftspartner, ausbleibende Lohnzahlungen, Secessions und Nationalkriege oder rassistische Verfolgung treibt die so aus ihrem bisherigen Alltag Entlassenen an, alles nicht Lebensnotwendige zu verkaufen, um die Existenz zu sichern. Die Grenzen zwischen Armutsbevölkerung und Armutsflüchtlingen sowie zwischen 'Asylsuchenden' und 'ArbeitsmigrantInnen' verwischen sich hierbei zusehens. Schlögels Blick auf den Schwarzmarkt als 'Privatierung von unten' verklärt die radikale Zwangsflexibilisierung der meist mehrfach Beschäftigten ohne Aussicht auf Urlaub, Krankenversicherung, Arbeitslosenunterstützung: 'working poor' nun auch hier. Zugleich naturalisiert er den westlichen Kapitalismus, der mit Insignien von Bank bis Börse mit einer 'Privatisierung von oben' an die Basarwirtschaft anschließe. Schlögels WendePerspektive des Kalten Kriegs nimmt weiterhin nicht zur Kenntnis, daß sogenannte Polenmärkte schon seit Beginn der 80er Jahre existierten und wohl auch in Zukunft neben einer Nachahmung westeuropäischer Muster bestehen bleiben. Denn noch bis kurz vor Mauerfall existierte solch ein riesiger 'Polenmarkt' auch auf dem Potsdamer Platz in Westberlin genau dort, wo nun die DaimlerBenzInterService AG als "hochwertiger" Dienstleister für Handel, Kommunikation und Immobilien ihre Zentrale bezieht. Im Ostberliner Stadtteil Lichtenberg wurde vor vier Jahren das selbstorganisierte Handels und Dienstleistungszentrum in einem vietnamesischen Wohnheim staatlich zerschlagen, was zu einer heftigen Straßenschlacht zwischen den BewohnerInnen und der Polizei führte. Inzwischen gründete der Verein 'Reistrommel' eine Art Auffanggesellschaft, welche den ehemaligen VertragsarbeiterInnen in einer alten Lagerhalle Klein, Zwischen und Großhandel von Textilien, Lebensmitteln und Konsumelektronik ermöglicht. Hier werden zumeist aus Vietnam stammende Textilprodukte an Einzelpersonen und lokale Händler verkauft. Weiterhin wird hier frische Handelsware in Kleintransporter mit polnischen Kennzeichen geladen, um die Märkte jenseits der Grenze zu beschicken. Die Halle sichert den von Abschiebung Bedrohten einen Job, welcher als Voraussetzung für eine offizielle Duldung gilt. Nebenan bietet 'Reistrommel' Rechtsberatung und Öffentlichkeitsarbeit an. Shuttle Traders Waren die informellen "ComeconMärkte" (Endre Siks) mit zumeist auf dem Rücken antransportierten Gütern vor 1989 noch von wenigen 'Spezialisten' betrieben, sind diese seit dem Ende des Staatssozialismus weitverbreitete Normalität: "Das Phänomen ist massiv, eines der Massen", beschrieb der bulgarische Sozialwissenschaftler Yulian Konstantinov anläßlich der Berliner Tagung 'Cities in Transition' die aktuelle Größenordnung. Allein für Polen wird hierbei ein Umsatz von 5 Milliarden Dollar geschätzt höher als die meisten noch verbliebenen Industriezweige: "Dieser Grenzhandel kann als 'big business' für Polen angesehen werden." (Claire Wallace) Beim Kongreß 'Shopping Tourism and Traveling Objects in Postwar Central Europe' auf Einladung des Wiener 'Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften' berichtete Julia Zhdanova von sogenannten 'Shuttle Traders' ('chelnoki'), welche durch ihren professionalisierten Reisetourismus per Bahn mehr als ein Sechstel des gesamten russischen Imports bewältigen. Die geschätzten 5 bis 10 Millionen Einkaufspendler mit monströsem Handgepäck stellten nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus die Versorgung mit Gütern und Nahrungsmitteln sicher. Erst kürzlich fielen sie auch den Statistikern auf, weshalb nun die TransferGewinne abgeschöpft werden. Nach Einschätzungen von Julia Zhdanova bilden die zumeist weiblichen Handlungsreisenden einen bedeutenden Teil der künftigen russischen Mittelschicht, da sie Kapital für künftige Investitionen ansammeln. Das Erreichenkönnen westlicher Standards der 27 "Transformationsländer" ist nach ethnopolitischen Konflikten, geostrategischen Verwertbarkeiten und ökonomischen Potentialen verschieden. Generell verläuft die immer spürbarer werdende Trennlinie zwischen den EU bzw. NATOOsterweiterungsKandidaten und den verbleibenden GUSStaaten sowie zwischen zentral und südosteuropäischen Ländern. Im schon recht früh liberalisierten Ungarn bildeten sich schon vor 1989 'Kleinkapitalisten' mit Kleinbetrieben, privaten Bauernhöfen oder auf Straßenmärkten heraus. Doch durchzogen agressives Marketing, protestantische Arbeitsethik, exzessiver Konkurrenzkampf sowie strikte KostenNutzenRechnung nach Vorbild des westlich geprägten Kapitalismus die mittelosteuropäischen Staaten erst nach '89. Bis dahin war 'billig' auch kein Schimpfwort, sondern ein entscheidender Kaufanreiz. "Warum gibt es so viel Geld, um die Privatisierung zu studieren, doch weit weniger, um Armut in Osteuropa zu erforschen... Die westlichen Förderprogramme, welche die materiellen Resourcen kontrollieren, haben einen großen Einfluß auf die gewählten Themen... Wie kann ich meine Ideen dem Westen verkaufen?" (Csepeli/Örkény/Scheppele in Replika) Mittel/osteuropäische SozialwissenschaftlerInnen, welche die Gesetzmäßigkeiten informeller Märkte untersuchen, sind selbst einem grenzüberschreitenden Wissenshandels unterworfen, welcher sich zudem ähnlichen regionalen Wertschätzungsmuster unterliegt. Denn nicht nur Politik und Wirtschaft, sondern auch der hiermit verknüpfte westliche Wissenschaftsbetrieb entwickelte ein koloniales Interesse an "interessanten" Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts. Westliche Datenbanken werden dort mit dem Rohstoff Fakten aufgefüllt, deren Veredelung also die Wertschöpfung im Westen geschieht. Hat man als zugereister Westwissenschaftler keine familiären Brücken in das mittel/osteuopäische Forschungsgebiet, helfen bei den "data safaris" lokale AssistentInnen als Dolmetscher aus: "eingeborene Soziologen wurden Angestellte von Datenexportgesellschaften" (György Csepeli/Antal Örkény). Ungarische WissenschaftlerInnen verdienen ca. $300 und somit durchschnittlich ein Zehntel dessen, was ihre USKollegInnen erhalten, geben dafür aber 50% mehr für importierte Fachbücher aus: Gleich den KleinhändlerInnen müssen sich auch OstwissenschaftlerInnen um Zusatzjobs kümmern, da ihr Forschungsgehalt nicht zum Leben reicht. Universitäten haben wie andere öffentliche Einrichtungen des ehemaligen Staatssozialismus kein Geld mehr, sodaß viele WissenschaftlerInnen in die Privatwirtschaft, und einige Privilegierte an westliche Institutionen abwandern ("brain drain"). So galt es für viele mittel/osteuropäische WissenschaflerInnen schon bald, sich in den internationalen Kongreßtourismus und dessen Finanzfluß einzuklinken. Mit den westlichen Fördergeldern werden jedoch weniger osteuropäische Infrastruktur (Computer, Bibliotheken, Nachwuchsförderung) denn westliche Institute finanziert. Mit dem Ende der staatlichen Subventionspolitik für Forschung oder Tagungen gaben westliche Institutionen mit dem Geld die Themen vor. Im Bereich der Sozialwissenschaften haben Elitenforschung und Marktanalysen Vorrang, welche das Interesse westlicher Produzenten und Staaten an östlichen Märkten und Mächten widerspiegeln. Die Hegemonie der englischen Sprache und des USFundings wird hierbei auf Mittel/Osteuropa übertragen. Neben der Weltbank mit Sitz in Washington oder der usungarischen SorrosStiftung glichen ehemals den Kalten Krieg untersuchende Institutionen ihre Förderprogramm der neuen Weltordnung an: "Geldgeber wechselten ihre Prioritäten und änderten über Nacht die Anfrage nach Anträgen über nukleare Abschreckung und Konfliktmanagement hin zu Anträgen über Demokratisierung und Privatisierung." (Kim Lane Scheppele). Die nun 'Transition Studies' genannt Forschung, an dessen Ende wohl "Normalität" herauskommen soll, verortet den "Osten" jenseits von Modernität oder Weltwirtschaft. Die Finanzierungspraxis der westlichen "Geberländer" erinnert an die 'Gewährung' von 'Entwicklungshilfe', obgleich rhetorisch noch zwischen 2. Welt und dem Trikont geschieden wird. "Die Bildung von Koalitionen mithilfe von Kommunikation und Handel wird immer notweniger; dabei werden Konsum und die elektronischen wie die Printmedien als Schauplätze genutzt." 'Market' by Group Material, Kunstverein München, 1995 Wie entkommt eine Schilderung der Zuschreibung des 'Unterentwickelten', da informeller ReiseHandel auch Mobilität und Emanzipation bedeuten kann? Von der bislang üblichen wissenschaftskolonialen Praxis in Begrifflichkeit wie Auftragsstellung setzt sich das vom österreichischen Staat geförderte zweijährige Forschungsvorhaben über 'Shopping Tourism' deutlich ab. Das seitens Anne Wessely und Tibor Dessewffy von Budapest aus initiierte und koordinierte Projekt versteht sich als per email zusammengehaltenes RechercheNetzwerk von Kultur und Sozialwissenschaftlern aus Rumänien, Slowenien, Rußland, Tschechien und Ungarn, also den zentraleuropäischen Nachfolgestaaten des ehemaligen ÖstereichUngarischen Reichs. Bei klarer Autonomie von Seiten der mittel/osteuropäischen WissenschaftlerInnen ist Österreich hierbei als Gegenfolie "Wien war das Schaufenster für westliche Waren, die erste Stadt auf der anderen Seite des 'Eisernen Vorhangs'" einbezogen. Innerhalb des abgesteckten thematischen Rahmens entwickeln die Beteiligten ihre jeweiligen Schwerpunkte unter kollegialer Einbeziehung des wissenschaftlichen Nachwuchses, welcher einmal nicht nur für's stumpfe Zuarbeiten oder Datensammeln gebraucht wird. 'Ethnie', 'Klasse' oder 'Differenz' sowie die sichtbaren Unterschiede zwischen arm und reich waren und sind noch immer im vormals "klassenlosen" Mittel und Osteuropa von anderer Bedeutung als etwa im Großbritannien des Birmingham Center for Contemporary Cultural Studies oder das von Bourdieu beschriebene Pariser Bürgertum. "Wir empfinden eine Notwendigkeit, unsere eigenen kulturell sensiblen Theorien zu entwickeln, aufmerksam für die Besonderheiten unserer eigenen Zeit und unseres eigenen Ortes", formuliert die Einführung des transnationalen Forschungsprojekt über 'Shopping Tourism' die kritische Distanz zu sozialwissenschaftlichen Weststandards. Das "eigene" trägt hier nicht den falschen Zungenschlag nationalistischer Besonderheiten. Vielmehr scheinen gerade die 'politics of consumption' als nahezu weltweit anwendbarer Parameter für eine "Geschichte der Gegenwart" (Wessely) bereitzustellen, um gesellschaftspolitische Umbrüche, nationalstaatliche Erosionen sowie kulturelle Neubewertungen "auf dem Weg nach Europa" (Miklós Vörös) zu vergleichen. Das Projekt widmet sich weniger den Eliten, sondern dem Massenphänomen Kleinhandel, wenn etwa russischer Sekt nach Wien, Pornohefte aus Jugoslawien oder AntiBabyPillen Richtung Rumänien verschoben wurden. Soziale oder kulturelle Entwicklungen, und nicht so sehr die ökonomischen Aspekte des grenzüberschreitenden Warenverkehr vormals staatssozialistischer Länder stehen bei der wissenschaftlichen Erkundung im Vordergrund. In der "klassenlosen Gesellschaft" des staatlich regulierten Konsums spielte danach der Zugang zu westlichen oder verbotenen Produkten eine bedeutende Rolle für die Distinktion: Der Besitz zumindest eines KunderaRomans gehörte in vielen Kreisen schlicht zum guten Ton. Differenzierung ergaben sich über den kulturellen Status (Freizeitgestaltung, kulturelle Aktivitäten, Bildung) und weniger durch die materielle Lage (Einkommen, berufliche Position). Bücher, Platten, Ideen, Reisemöglichkeiten und Konsumgüter des nichtalltäglichen Bedarfs hatten also neben ihrem Gebrauchswert vor allem (sub)kulturelle Bedeutung: 1960 fuhr der geschmacksbewußte Intellektuelle aus Budapest wegen der Jazzplatten nach Prag, lernte dort auch die Filme der Beatles kennen, und schaute sich in Wroclaw oder Kraków experimentelles Theater an. Nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen 1968 kamen die Tschechen, um in Budapest Filme zu schauen, während die Österreicher sich bald darauf an billigen Ferien und Dienstleistungen (Zahnarzt, Brillen, Kuren) in den östlichen Ländern erfreuten. Verbotene Literatur in polnischer Übersetzung oder die HavelEssays als SamizdatRaubdruck organisierte man sich auf dem Warschauer Flohmarkt. Auch aus der DDR hörte man ja noch lange Zeit vom erstaunlichen Kultwert geschmuggelter GenesisPlatten. Während in der formalen Ökonomie des Staatssozialismus ethnische oder kulturelle Besonderheiten negiert wurden, spielten beim ShoppingTourismus erfahrene Identitätsstiftung und Repräsentation nationaler Unterschiede sowie Wechselkurse und Kaufkraft für die zumeist grenznah gelegenen einheimischen Minderheiten eine große Rolle: Während die Ungarn noch in den 70er Jahren ihre Jeans billiger in Jugoslawien kauften, erhält man nun in Budapest vier Jeans für den Preis von einer im vormals jugoslawischen Slowenien. Je nach Versorgungslage unterscheiden sich die Bedeutung der Einkaufstouren recht deutlich voneinander: Während Ungarn bevorzugt verbotene Produkte erstehen wollten oder sich mit dem Verkauf von Produkten ihre Reisefreiheit finanzierten, ist der grenzüberschreitende Handel und die Erkundung neuer Terrains etwa für rumänische Roma von existenzieller Notwendigkeit. Zumeist wurden Blutkonserven, alte Lagerbestände, demontierte Fabrikteile oder Waren aus der laufenden Produktion über die Grenze verschoben, allerdings nicht ohne vorher die Zöllner beiderseits der Grenze mit Alkohol, Waren oder Geld zu bestechen. Die informelle MarktWirtschaft der Kleinhändler organisiert sich entlang von Familienzugehörigkeit, Freundschaft oder ethnischer Bindung. Auf den mitteleuropäischen OstWestKreuzungen im vergleichsweise liberalen Ungarn kam es regelmäßig zu deutschdeutschen Familientreffen ohne staatliche Aufsicht der DDROrgane, weshalb sich an diesen Knotenpunkten wiederum informelle Märkte ansiedelten. Flüchtlinge aus ExJugoslawien halten zum Teil per Internet ihre Handelskontakte mit weitverstreuten Angehörigen aufrecht, während polnische Handelreisende als Pioniere des informellen grenzüberschreitenden Warenaustauschs schon früh auf eine weitgestreute Diaspora von ExilantInnen als soziales Kapital zurückgriffen. Seither hat sich der polnische Warenverkehr allerdings gewandelt: Nun reisen Kleinhändler aus anderen Staaten nach Polen ein, um hier die in den zahlreichen Sweatshops speziell für diesen Export hergestellten Produkte einzukaufen. Dem Herausbilden neuer Mittelschichten steht die Meldung einer Massenflucht tschechischer Roma Richtung Kanada gegenüber, die so den täglichen Verfolgungen und rassistisch motivierten Gewalttaten im "sicheren Drittland" Tschechien entfliehen wollten. Mehr als 70% der hier ansässigen Roma sind vom offiziellen Arbeitsmarkt ausgeschlossen, und aus Mangel an Sprachausbildung werden ihre Kinder in Sonderschulen abgeschoben. Deals oder Flucht lauten ihre Perspektiven. Erstmals abgedruckt in Spex 12/1997 unter dem Titel 'Festung Europa' * FFM 'Polen. Vor den Toren der Festung Europa' Verlag Schwarze Risse/Rote Straße, 1995, vergriffen * FMM 'Ukraine. Die Vorverlagerung der Abschottungspolitik' Verlag Schwarze Risse/Rote Straße, 1997, 12 Mark * kein mensch ist illegal c/o Forschungsgesellschaft Flucht und Migration e.V., tel: +49.30.6935670, fax: +49.30.6938318, ffm@ipnb.comlink.apc.org * grenze@ibu.de * www.contrast.org/borders/kein * Reistrommel e.V. 'Zweimal angekommen und doch nicht zu Hause. Vietnamesische Vertragsarbeiter in den neuen Bundesländern' 1997, Broschüre 4.80 Mark, tel: +49.330.54957447 * Miklós Hadas/Miklós Vörös (Hg) 'Colonization or Partnership? Eastern Europe and Western Social Sciences' Sonderheft 1996 Replika, tel: +36.1.217.4482, fax: +36.1.217.5172, email: szoc_hadas@pegasus.bke.hu * Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften Wien, tel: +43.1.5041126, fax: +43.1.5041132, ifk@ifk.ac.at * Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hg.) 'Der Osten Europas im Prozeß der Differenzierung. Fortschritte und Mißerfolge der Transformation' Hanser Verlag, 1997, 49.80 Mark --- # distributed via nettime-l : no commercial use without permission # <nettime> is a closed moderated mailinglist for net criticism, # collaborative text filtering and cultural politics of the nets # more info: majordomo@desk.nl and "info nettime-l" in the msg body # URL: http://www.desk.nl/~nettime/ contact: nettime-owner@desk.nl