Florian Cramer on Sat, 29 Apr 2000 20:05:21 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Warum es zuwenig interessante Netzdichtung gibt - Neun Thesen


Anm.: Die folgenden Thesen wurde am 27.4. im Rahmen der Karlsruher
Ausstellung und Vortragsreihe "Liter@tur. Computer/Literatur/Internet"
<http://www.netlit.de> referiert. 

Eine PDF-Version des Texts findet sich hier:
<http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/aufsaetze/netzliteratur/karlruher_thesen.pdf>

... und eine HTML-Version hier:
<http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/aufsaetze/netzliteratur/karlruher_thesen.html>

-FC

* * *


             Warum es zuwenig interessante Netzdichtung gibt.
                               Neun Thesen.
                                     
                              Florian Cramer
                                     
                                     
                                27.4.2000

  
                                   
                                   Inhalt
                                      
   1 Das Internet ist ein literarisches Medium
   2 Netzdichtung sollte das Internet nicht nur als flüchtiges
   Aufschreibe- und Distributionssystem nutzen
   3 Netzdichtung ist nicht gleich ,,Hypertext``-Dichtung
   4 ,,Hypertext`` ist nicht gleich Computernetztext
   5 ,,Hypertext`` fügt dem literarischen ,,Text`` nichts hinzu
   6 Der Browser ist nicht das Internet
   7 Es gibt keinen multimedialen Computercode
   8 Netzdichtung sollte computerprozessierte Sprache reflektieren
   9 Netzdichter sollten auch Programmiersprachen beherrschen
   Literatur
   
1  Das Internet ist ein literarisches Medium

   Das Internet ist das erste neue Massenmedium des zwanzigsten
   Jahrhunderts, das auf alphabetischen und numerischen Codes basiert,
   das heißt: auf Text. Nicht nur die Daten, die in ihm übertragen
   werden - E-Mail-Nachrichten, Web-Seiten und selbst Töne und Bilder -
   sind als Text codiert. Auch die Programme, die für diese
   Datenübertragung sorgen, sind Texte, die Computer mit
   Maschinenbefehlen ansteuern.
   
   Damit erübrigt sich die Frage, ob es Literatur im Internet gibt. Das
   Internet ist eine Literatur, ein Buchstabenwesen. Seine Poesie zu
   finden, ist Aufgabe des Lesers. Es gibt gute Gründe, den
   selbstmodifizierenden Code eines ingeniös konstruierten
   Computerviruses für interessantere Literatur zu halten, als zum
   Beispiel die Dichtungen, die sich im Electronic Poetry Center
   http://epc.buffalo.edu/ der State University of New York at Buffalo
   versammelt finden.
   
   Dichtung, die vom Buch ins Netz - von der Gutenberg- in die
   Turinggalaxis - migriert, unterwirft sich denselben Bedingungen,
   unter denen Text im Netz sich figuriert. Als Netzdichtung wird sie
   erst dann interessant, wenn sie digitale Sprachcodes reflektiert und
   mit ihnen dichtet. Netzdichtungen, die Schreibpapier und Druckseiten
   im Web-Browser emulieren, sind nicht Gegenstand meines Vortrags.
   
2  Netzdichtung sollte das Internet nicht nur als flüchtiges Aufschreibe- und
Distributionssystem nutzen

   Literatur à la Null [het99], ampool und Rainald Goetz, die das
   Internet als temporäre Schreib- und Distributionsplattform benutzt,
   ist als genuine Netzliteratur uninteressant, weil sie besser auf dem
   Papier gelesen werden kann.
   
   Man könnte dagegen einwenden, daß Dichtung, die in einem
   elektronisch vernetzten Diskurs entsteht und diesen reflektiert,
   auch dann Netzdichtung ist, wenn sie im Buch erscheint oder mündlich
   vortragen wird. Tatsächlich ist dieses Argument häufig zu hören,
   wenn es darum geht, Netzkünste zu definieren.
   
   Eine so umfassenden Begriff von Netzdichtung halte ich deshalb nicht
   für hilfreich, weil mit ihm mittel- und langfristig nichts mehr zu
   unterscheiden sein wird. Schon jetzt gehören elektronische Netzwerke
   wie Telefon und Fax zur literarischen Produktionstechnik, und es ist
   nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Korrespondenz von
   Autoren, Lektoren, Übersetzern, Setzern und Druckern vollständig ins
   Internet verlagern wird. So werden Bücher im selben Maße
   ,,Internetliteratur`` sein, wie sie heute bereits Schreibmaschinen-
   und PC-Literatur sind.
   
   Bücher werden das wichtigste Medium der Literatur bleiben, solange
   Computer mit Bildschirmflimmern, Lüfterlärm und fragiler Software
   eine feindliche Umgebung fürs konzentrierte Lesen schwieriger Texte
   schaffen. Dichtung, die tatsächlich im Internet für das Internet
   geschrieben wird, bleibt vorerst die Ausnahme. Nur um die Frage, was
   eine Literatur auszeichnet, die, um lesbar zu sein, Computer und
   Internet zwingend voraussetzt, soll es hier gehen.
   
   Die Frage, weshalb es zuwenig interessante Dichtung im Netz gibt,
   könnte deshalb auch anders lauten: Weshalb gibt es zuwenig Dichtung
   im Netz, die ihrem Medium gerecht wird?
   
3  Netzdichtung ist nicht gleich ,,Hypertext``-Dichtung

   Netzdichtung ist nur eine von vielen Netzkünsten. Seit Mitte der
   1990er Jahre gibt es eine erfolgreiche konzeptualistische Netzkunst,
   die unter anderem in der Ausstellung net.condition des Karlsruher
   ZKM präsentiert wurde.1 In der Netzmusik vollzieht sich zur Zeit ein
   technischer Umbruch, dessen trivialster Aspekt herunterladbare
   Tonaufnahmen im mp3-Format sind. Internet-gestützten,
   teilautomatisch erzeugte Partituren und Kompositionen wie jene von
   Karlheinz Essl http://www.essl.at weisen weit über diese Konserven
   hinaus.
   
   Es scheint, als ob die Netzdichtung gegenüber anderen Netzkünsten
   heute in eklatantem Rückstand ist. Manche Netzliteraturkritiker
   haben deshalb stillschweigend die Netz-Konzeptkunst zur besseren
   Netzdichtung erklärt.2 Ausgeprägt ist der Rückstand der
   Netzliteratur auch im theoretischen Diskurs über das Internet, den
   seine Protagonisten führen. Während im Umfeld anderer Netzkünste
   Politik und Machtstrukturen des Netzes schon seit Jahren kritisch
   reflektiert werden, kreisen internationale
   Netzliteratur-Diskussionen nach wie vor um naive
   Freiheitsverheißungen von ,,Hypertextualität`` und
   ,,Multimedialität``.
   
   So ist die Geschichte der Netzdichtung eine Geschichte konzeptueller
   Mißverständnisse. Von diesen Mißverständnissen zeugt beispielhaft
   der Einband des vor kurzem erschienenen Sammelbands Hyperfiction
   [SB99].
   
   Der Untertitel des Buchs lautet ,,Hyperliterarisches Lesebuch:
   Internet und Literatur``. Darunter abgebildet ist eine CD-ROM. Es
   bleibt nicht bei der Abbildung, tatsächlich liegt dem Buch eine
   CD-ROM bei, die fast alle der ,,Netzdichtungen`` enthält, auf die
   sich die gedruckten Beiträge beziehen.
   
   Mit anderen Worten: Diese sogenannte Internet-Literatur braucht gar
   kein Internet.3
   
   Betrachtet man den Buchtitel genauer, so ist dies nicht einmal
   inkonsequent. Das Konzept ,,Hyperfiction``, abgekürzt für
   ,,Hypertext fiction``, hat seine Wurzeln an der amerikanischen Brown
   University. Seine bekanntesten Theoretiker sind der Philosoph David
   Jay Bolter und der Literaturwissenschaftler George Landow [Lan92],
   seine bekanntesten Praktiker Michael Joyce, Autor des
   ,,Hyperfiction``-Romans Afternoon [Joy90], Stuart Moulthrop, Autor
   von Victory Garden und, als einziger über das Genre hinaus bekannter
   Schriftsteller, Robert Coover, der sich mit ,,Hyperfiction``
   allerdings nur in Manifesten und in Schreibseminaren befaßt hat.4
   
   ,,Hyperfiction``, wie sie an der Brown University verstanden und
   gelehrt wird, ist keine Internet-Literatur. Sie wurde dort in den
   späten 1980er Jahren als reine Offline-Dichtung konzipiert,
   offenkundig ohne Kenntnisnahme von Datennetzen. In Amerika wird
   diese ,,Hyperfiction`` weiterhin von spezialisierten Verlagen auf
   Diskette vertrieben, funktioniert ohne Internetzugang, ohne
   Webbrowser und wird schon aus kommerziellen Erwägungen heraus nicht
   ins World Wide Web gestellt.
   
4  ,,Hypertext`` ist nicht gleich Computernetztext

   Was Hypertext ist, bedarf heute keiner detaillierten Erklärung mehr.
   Sein Konzept entstand in den 1940er Jahren und bezog sich ebenfalls
   weder auf Computer, noch auf Datennetze, sondern auf mechanische
   Leseapparate. Konzipiert war das Proto-Hypertextsysten ,,Memex`` als
   Mikrofilmgerät mit maschinell unterstützten Querverweisen.5 Auch der
   digitale Hypertext nutzt - im Unterschied zu Programmiersprachen -
   den Computer bloß als Speicher- und Anzeigegerät. So machen
   Hypertexte nur einen extrem restringierten Gebrauch von den
   Möglichkeiten des Computers, Texte und Sprache zu prozessieren.
   
   Daß Netzdichtung und Hypertextdichtung immer wieder synonym verwandt
   werden,6 hat die Entwicklung der Netzliteratur zurückgeworfen und
   ihre Formen restringiert. Die Gleichsetzung von Netzdichtung und
   Hyperfiction ist so falsch wie die Gleichsetzung des Internets mit
   dem World Wide Web. (Neben zum Beispiel E-Mail, Newsgroups, IRC, ICQ
   und Napster ist das World Wide Web nur einer von unzähligen
   Internetdiensten, und ob es in zehn oder zwanzig Jahren noch in
   seiner jetzigen Form existieren und populär sein wird, ist
   keineswegs gewiß.)
   
5  ,,Hypertext`` fügt dem literarischen ,,Text`` nichts hinzu

   Nicht minder problematisch ist, daß im Diskurs der Brown
   University-Schreiber und ihrer Netzliteratur-Epigonen das Wort
   ,,Hypertext`` zu wörtlich genommen wurde als Hypertrophierung des
   papiernen Textes. Im Hypertext, so die Annahme, transformiere sich
   der bislang lineare Drucktext in ein nichtlineares, dezentriertes
   Medium; Gleiches geschehe, wenn ,,fiction`` zu ,,hyperfiction``
   werde.
   
   Diese Annahme ist das historische Produkt einer sehr spezifischen
   Kultur, Ergebnis eines Konflikts von Computer-Schreibexperimenten
   mit der Didaktik der klaren Prosa und des ,,good style`` in den
   ,,creative writing``-Seminaren amerikanischer Universitäten. Daß
   daraus eine allgemeine Textpoetik abgeleitet wurde, hatte eine Serie
   von Mißverständnissen zur Folge, die sich bis heute beharrlich
   gehalten haben.
   
   Wie geschildert, ist ,,Hypertext`` kein Begriff der literarischen
   Texttheorie, sondern ein Konzept der technischen Organisation von
   Informationen, das heißt: ein Datenbankmodell. Hypertext konkurriert
   daher mit anderen Datenbankmodellen, die Informationen tabellarisch,
   relational oder hierarchisch erfassen. Ein PC mit Bürosoftware
   bietet heute alle diese Möglichkeiten:
   
     * die hierarchische Organisation von Daten in der Ordnerstruktur
       des Dateisystems;
     * die tabellarische Organisation von Daten mit
       Kalkulationssoftware wie Excel;
     * die relationale Organisation von Daten in verknüpften Tabellen
       mit Datenbanksoftware wie FileMaker und Access;
     * die hypertextuelle Organisation von Daten durch Querverweise mit
       einem Webbrowser oder symbolische Links im Dateisystem.
       
   Im Unterschied zu herkömmlichen Textdateien, die im Dateisystem
   eines Computers abgelegt werden, sind in Hypertext-Dateien
   Textinformation und Dateiorganisation nicht voneinander getrennt,
   sondern miteinander vermengt. Für den Leser am Computer hat dies den
   Vorteil, zum Blättern nicht mehr vom Textfenster ins Dateifenster
   wechseln zu müssen, wie es noch bei Gopher, einem Vorläufer des
   World Wide Web, nötig war. (Da die Übersicht über die Dateistruktur
   einer Website im World Wide Web hingegen verloren geht, wenn sie
   nicht im Textcode selbst nachgebildet wird, ist Gopher das
   transparentere System.)
   
   Als Datenbankmodell hat Hypertext selbst im World Wide Web Bedeutung
   eingebüßt. Suchmaschinen, die auf relationalen Datenbanken basieren,
   sind das populärere Rechercheinstrument im Internet, und auch der
   Text komplexer Websites wird fast immer aus relationalen Datenbanken
   generiert.
   
   Gegenüber dem papiernen Text ist ,,Hypertext`` nicht einmal ein
   neues Konzept. Mit Seitennummern, Inhaltsverzeichnissen,
   Begriffsindizes und Fußnoten vermengen sich auch in Büchern
   Textinformation und -navigation. Daß darüber hinaus jeder Text aus
   Quer- und Selbstverweisen besteht und assoziativ gelesen wird, ist
   eine Grunderkenntnis, die schon in der Abkunft des Worts ,,Text``
   vom lateinischen ,,textum``, ,,das Gewebe`` steckt. Daß manche
   ,,Hyperfiction``-Apologeten glauben, dies erst am Computer erfunden
   zu erhaben, spricht gegen ihre literarische Kompetenz.
   
   Ein Roman wie Kafkas Proceß unterscheidet sich von einer
   ,,Hyperfiction`` wie Michael Joyces Afternoon [Joy90] dadurch, daß
   er die Verstrickungen seines Erzählgewebes weniger offenkundig
   exponiert. Aber auch jede ,,hypertextuelle`` Organisation eines
   Texts erzeugt in sich ,,lineare`` Erzählblöcke, die innerhalb einer
   linearen Zeitspanne gelesen werden. Vergleicht man z.B. Diderots
   Enzyklopädie oder eine gewöhnliche Bibel mit einer ,,Hyperfiction``,
   so bietet der Computer-Hypertext lediglich eine andere
   Benutzeroberfläche.7 Diese Oberfläche schränkt die Lektüre ein, weil
   sie wie das Ganze verbirgt und den Leser auf auktorial vorgegebene
   Pfade zwingt.8
   
   Insgesamt erscheint es ein Irrtum, wenn ,,Hyperfiction``, wie in der
   Stroemfeld-Anthologie und anderswo, für die quasi natürliche Form
   von Netzdichtung gehalten wird. Vielmehr erscheint sie als
   Spezialgenre von Labyrinthtexten, das verwandt ist mit textbasierten
   Abenteuer- und Rollenspielen. Seit den 70er Jahren werden diese
   Spiele wahlweise mit Anleitungsbüchern oder auf Computern gespielt.
   Nicht anders verhält es sich mit Hypertext-Labyrinthen, die mit
   Computern und Internet eine zwar naheliegende, aber nicht zwingende
   Verbindung eingegangen sind.
   
6  Der Browser ist nicht das Internet

   Wird ,,Hyperfiction`` vor allem als Prosaform begriffen, so knüpfen
   viele Netzlyriker an die Traditionen von konkreter Poesie und Fluxus
   an. Unter dem Label New Media Poetry entstehen intermediale
   Gedichte, die - so ist zu beobachten - vor allem mit Möglichkeiten
   bewegter Bildschirmtypographie experimentieren, die der Buchdruck
   nicht bietet.
   
   Als einfaches Beispiel möchte ich Ihnen das Gedicht After Emmett
   http://net22.com/qazingulaza/joglars/afteremmett/bonvoyage.html von
   Miekal And zeigen. Der Titel ist eine Hommage an den Fluxuskünstler
   und konkreten Poeten Emmett Williams. Die Buchstabenformen dieses
   Gedichts sind durch einfache Graphikanimationen dynamisiert.
   
   Einen höheren technischen Aufwand betreibt Jim Andrews' Gedicht
   Seattle Drift http://www.vispo.com/animisms/SeattleDrift.html, in
   dem ein für den Webbrowser geschriebenes Computerprogramm die
   Buchstaben auf dem Bildschirm bewegt.
   
   Ein Problem nicht nur dieser beiden Gedichte, sondern fast der
   gesamten New Media Poetry im Internet ist, daß sie nur mit komplexen
   graphischen Webbrowsern wie Netscape und Internet Explorer gelesen
   werden können. Oftmals sind auch spezielle Plugins und
   Zusatzprogramme nötig, und nicht selten erweisen sich solche
   Arbeiten als inkompatibel zu neueren Versionen der Browser-Software.
   Dieses Problem hat nicht nur experimentelle Netzlyrik, sondern es
   ist in allen Netzkünsten virulent. Digitale Kunstwerke, so hat sich
   herausgestellt, sind einem viel schnelleren Verfall ausgesetzt sind
   als traditionelle Kunstwerke. Institutionen wie das Karlsruher ZKM
   beschäftigen sich schon jetzt damit, digitale Kunstwerke zu
   konservieren, die nur wenige Jahre alt sind.
   
   Wegen ihrer fragilen Softwarekonfigurationen werdem Netzkunstwerke,
   obwohl vorgeblich im weltweiten Netz beheimatet, bevorzugt in
   Ausstellungen und auf Festivals präsentiert. Dieser Trend könnte
   sich noch verstärken, sobald großkalibrige Personal Computer und
   monolithische Browser nicht mehr die Regel-, sondern die
   Ausnahmekonfiguration für den Internetzugang sind und Netzdienste
   stattdessen über eine Vielzahl mobiler Kleingeräte genutzt werden.
   
   Für Gedichte wie After Emmett und Seattle Drift gilt grundsätzlich
   dasselbe wie für die meisten ,,Hyperfiktionen``: Sie sind nicht auf
   das Internet angewiesen, sondern funktionieren ebenso gut auf
   Diskette und CD-ROM. Man könnte sie sogar ganz ohne Computertechnik
   als kinetische Textskulpturen konstruieren und ausstellen.
   
   Fast alle Netzdichtung - auch fast all jene Netzkunst, die zum
   Beispiel auf der net.condition des ZKM ausgestellt wurde - ist,
   technisch gesehen, keine Netzdichtung, sondern Browser-Dichtung. Vom
   polnisch-amerikanischen Sprachkritiker Alfred Korzybski stammt das
   Bonmot ,,the map is not the territory``, ,,die Karte ist nicht das
   Land``. Im World Wide Web gilt analog, daß der Browser nicht mit dem
   Netz verwechselt werden sollte.
   
7  Es gibt keinen multimedialen Computercode

   Miekal Ands Gedicht After Emmett ist, wie erwähnt, nicht im
   Textcode, sondern als Graphik auf dem Netzcomputer abgespeichert und
   wird auch als Graphik dargestellt. Es erkauft die Freiheit seines
   visuellen Spiels um den Preis, daß seine Schrift auf anderen
   Computern nicht mehr als Schrift prozessierbar ist. An die Stelle
   der Sprachinformation tritt ein anderer alphanumerischer Code, der
   nicht mehr die Buchstaben, sondern nur noch das visuelle Raster der
   Graphiken speichert.
   
   Ein Sprichwort behauptet, daß ein Bild mehr sagt als tausend Wörter.
   Diese Behauptung sollte revidiert werden. Miekal Ands neun
   Bildbuchstaben beanspruchen auf der Festplatte soviel Speicherplatz
   wie der gesamte Romantext von Laurence Sternes Tristram Shandy.
   
   Meine erste These lautete, daß das Internet ein literarisches
   Medium, also ein Textmedium ist. Auch Bilder und Töne werden auf
   Computern als Textcodes gespeichert und als Textcodes übertragen. Zu
   Bildern und Tönen werden ihre Daten erst dann, wenn sie die
   Datenverarbeitung der Maschine verlassen und mit Graphik- und
   Audioprozessoren des PCs von digitalen in analoge Daten
   zurückgewandelt werden.
   
   Bilder und Töne sind im Internet tote Datenmaterie. Jede
   Suchmaschine kann in einem Textkorpus alle Sätze mit dem Wort
   ,,Vogel`` finden, und ein Programm könnte sie zu einem Haiku
   montieren. Mit Bild- und Tondateien ist das nicht möglich. Keine
   Suchmaschine kann, ohne künstliche Intelligenz, in einem digitalen
   Tonarchiv Vogelstimmen oder aus einer Bilddatenbank Photographien
   von Vögeln finden und auswerten.
   
   Weil der Computer eine Maschine ist, die Textcode umformt und
   ausführt, ist maschinell erzeugte und gefilterte Sprache keine
   Domäne jener frühen konkreten Poesie und Oulipo-Dichtung,9 die
   Reinhard Doehl in seinem Eröffnungsvortrag zu dieser Ausstellung
   beschrieben hat. Computergenerierte Sprache ist ein Alltagsphänomen.
   Die Software auf Personal Computern und Internet-Servern greift
   ebenso massiv wie unbemerkt in unsere Sprache ein: Suchmaschinen
   generieren Texte aus anderen Texten, Filter digestieren
   Mailinglisten-Beiträge, die Textverarbeitungssoftware, mit der ich
   diese These geschrieben habe, formatiert Datenbankeinträge zu
   bibliographischen Angaben, schreibt das Wort ,,Inhaltsverzeichnis``
   über das Inhaltsverzeichnis und das Wort ,,Literatur`` über die
   automatisch erzeugte Bibliographie.10
   
8  Netzdichtung sollte computerprozessierte Sprache reflektieren

   Internet-Dichtung, die auch ihren Sprachcode algorithmisch
   prozessiert, ist rar, eine kleine Untermenge der wenigen
   Netzdichtungen, die das Internet tatsächlich benötigen.11 Jedoch
   geben einige Netzkünstler , die mit Computer-Zeichencodes spielen,
   Impulse zu einer poetischen Sprachkritik und -reflexion des
   Internets. Seit mehreren Jahren wächst in der konzeptualistischen
   Netzkunst das Interesse für sogenannte ,,ASCII-Art``, Kunst, deren
   visuelles Repertoire sich auf die 128 Zeichen des amerikanischen
   Schreibmaschinen- und Computerzeichensatzes beschränkt, ein Code,
   den jeder Computer beherrscht, auf dem alle Programmiersprachen
   basieren und der selbst auf einfachsten Textterminals gelesen werden
   kann.
   
   Beschäftigte sich die traditionelle ,,ASCII Art`` von
   Computerhackern damit, gegenständliche Bilder als Typogramme zu
   codieren, so ästhetisiert ihre konzeptualistische Variante die
   visuell-typographische Kontingenz des Computers. Überbleibsel von
   Programmabstürzen, Datenfragmente, Nummerncodes, visuelle Raster und
   Befehlssequenzen werden in ihr zusammenmontiert und auf Foren wie
   der Mailingliste 7-11 http://www.7-11.org als Spielelemente
   kommunikativer Irritation und Disruption eingesetzt.12
   
   Eine Virtuosin dieses Spiels ist die australische Netzdichterin mez
   alias Mary Ann Breeze
   http://wollongong.starway.net.au/~mezandwalt/free.htm. Ihre Texte
   sind in einer Privatsprache namens ,,Mezangelle Language``
   geschrieben, die den Slang von Computercrackern mit
   Wortverschachtelungen wie in Joyces Finnegans Wake kombiniert.13
   
   Der Musiker und Schriftsteller Alan Sondheim, zur Zeit Gastautor des
   englischen Netzliteraturproject Trace [tra], entwickelt in seinen
   Netzschriften einen Tagebuchstil, der nicht nur Dichtung und
   Essayistik vermischt, sondern auch Textmeldungen seines
   Computerbetriebssystems und selbstverfaßten Programmcode
   inkorporiert.14
   
9  Netzdichter sollten auch Programmiersprachen beherrschen

   In der Kontamination von natürlicher Sprache und Programmiersprachen
   liegt aus meiner Sicht das größte Potential künftiger Netzdichtung,
   ein Feld, das zur Zeit weitgehend brachliegt.
   
   So waren die Avantgarde des Schreibens in Computernetzen bislang
   nicht Schriftsteller, sondern Programmierer, die das Internet und
   seine Unix-Software geschrieben haben. Besonders in der Netzkultur
   von Freier Software und ihren Plattformen BSD und Linux wird eine
   kollektive Autorschaft gepflegt, die sich auf komplexe,
   selbstgeschaffene Systeme des Schreibens, des Variantenabgleichs,
   der Dokumentation, des Informationsaustauschs unter den Entwicklern
   und schließlich der Lizensierung stützt. Alle diese Systeme sind,
   genau besehen, Texte, die je nach Verwendungszweck in
   Programmiersprachen, in Umgangsprache oder als juristischer Code
   verfaßt sind. Freie Software ist ein rekursives Prozessiersystem von
   Texten, die permanent auf sich selbst appliziert werden.
   
   Als Nebenprodukt hat sie zwei Textspiele entwickelt, die auch im
   herkömmlicheren Sinne poetisch sind: rekursive Akronyme und in
   Programmiersprachen geschriebene Lyrik.
   
   Das bekannteste rekursive Akronym ist ,,GNU`` für ,,GNU's Not
   Unix``. Wird die Abkürzung aufgelöst, so erweist sich, daß sie sich
   selbst enthält und mit jeder neuen Auflösung neu einschreibt. So
   führen rekursive Akronyme die Sprache in eine unendliche Schleife;
   sie wird zu einem Programm, das sich bei jeder Ausführung selbst
   modifiziert.
   
   Weiter entwickelt ist diese Prinzip in der Perl Poetry, einer
   Netzlyrik, die in Programmiersprache geschrieben ist. Perl Poems
   sind jedoch keine gewöhnliche Textmaschinen, denn auch ihr
   Programmcode ist als Lyrik lesbar.15 Ein Beispiel:

   
#!/usr/bin/perl

sleep;
        pipe (drip, drip);
listen       (drip, drip);
kill noises;
     kill dripping;
close pipe soon, NOW;
sleep again;

listen (drip, drip);
sleep (not now);
exit (do it);
accept destiny, now;

alarm neighbors;
get the keys now, &;
#open (up, &survey the);
;
crypt of,darkness;
not a single; pipe here,anywhere;

  
   Wird dieses Programm ausgeführt, so versetzt es sich selbst in einen
   Tiefschlaf, aus dem es nur noch gewaltsam - zum Beispiel per
   ,,kill``-Befehl - herausgerissen werden kann. So kann ein solches
   Programmiersprachen-Gedichts auf mindestens drei verschiedene Weisen
   gelesen werden:
   
    1. als Gedicht in natürlicher Sprache;
    2. als Sequenz von Maschinenbefehlen;
    3. sobald es ausgeführt wird und sein Output erscheint, als zweites
       Gedicht in natürlicher Sprache.
       
   Im Gegensatz zu Hyperfiction und New Media Poetry läßt sich diese
   Dichtung tatsächlich in kein anderes Medium als den Computer
   übertragen. Ihr Prinzip ist nicht einmal neu. Francois Le Lionnais,
   ein Mathematiker und Schriftsteller, der gemeinsam mit Raymond
   Queneau die Oulipo-Gruppe begründete, schrieb schon 1973 Lyrik in
   der Programmiersprache Algol.16
   
   Die maschinelle Ausführbarkeit von Schrift gewinnt in Computernetzen
   eine bislang ungekannte Qualität und Brisanz, bis hin zur
   elektronischen Sabotage. Netzliteratur sollte sie reflektieren und
   mit ihr dichten können. Auch Netzdichter sollten Programmiersprachen
   beherrschen, nicht nur, um Benutzeroberflächen zu manipulieren,
   sondern die Sprache selbst.
   
Literatur

   [Aar97]
          Aarseth, Espen J.: Cybertext . Baltimore : Johns Hopkins
          University Press, 1997
   [Coo92]
          Coover, Robert: The End of Books. In: The New York Times Book
          Review (1992), June 21
   [Coo93]
          Coover, Robert: Hyperfiction: Novels for the Computer. In:
          The New York Times Book Review (1993), August 29, S. 1-12
   [Fou77]
          Fournel, Paul: Ordinateur et écrivain. In: Oulipo (Hrsg.):
          Atlas de la littérature potentielle . Paris : Gallimard,
          1977, S. 315-336
   [Gys78]
          Gysin, Brion: Permutation poems. In: The Third Mind . New
          York : ?, 1978
   [Hei99]
          Heibach, Christiane: Creamus ergo sumus. Ansätze zu einer
          Netz-Ästhetik. In: Hyperfiction (siehe [SB99]), S. 101-112
   [het99]
          Hettche, Thomas (Hrsg.): Null - Online-Anthologie. 1999. -
          http://www.dumontverlag.de/null/
   [IK]
          Idensen, Heiko ; Krohn, Matthias: Die imaginäre Bibliothek. -
          http://www.uni-hildesheim.de/ami/pool/home.html
   [Joy90]
          Joyce, Michael: Afternoon, A Story . Cambridge, Massachusetts
          : Eastgate Systems, 1990
   [Lan92]
          Landow, George: Hypertext . Baltimore : Johns Hopkins
          University Press, 1992
   [MB98]
          Mathews, Harry (Hrsg.) ; Brotchie, Alastair (Hrsg.): Oulipo
          Compendium . London : Atlas Press, 1998
   [Mol63]
          Moles, Abraham A. erstes manifest der permutationellen kunst.
          1963
   [SB99]
          Suter, Beat (Hrsg.) ; Böhler, Michael (Hrsg.): Hyperfiction .
          Basel, Frankfurt/M. : Stroemfeld, 1999 (Nexus 50)
   [tra]
          trace online writing community. - http://trace.ntu.ac.uk
   [WCS96]
          Wall, Larry ; Christiansen, Tom ; Schwartz, Randal L.:
          Programming Perl . 2. CCambridge, Köln, Paris, Sebastopol,
          Tokyo : O'Reilly, 1996
     _______________________________________________________________
   
  Fußnoten:
  
   1 Zu meinen persönlichen Favoriten der ,,net.art`` zählen die Website
   jodi.org http://www.jodi.org, die Arbeiten der Londoner
   Künstlergruppe I/O/D http://www.backspace.org/iod/ und die
   Plagiatoren-Netzkunst von 0100101110101101.org
   http://0100101110101101.org.
   
   2 Wie z.B. Christiane Heibach in ihrem Beitrag zum Sammelband
   Hyperfiction [Hei99]
   
   3 Die Hyperfiction-Anthologie des Stroemfeld-Verlags stellt hierin
   übrigens keine Ausnahme, sondern die Regel dar. Auch z.B. die
   Beiträge des letzten IBM/Zeit-Literaturwettbewerbs Pegasus '98
   http://www.pegasus98.de wurden auf CD gepreßt.
   
   4 Siehe [Coo92] und [Coo93]
   
   5 vgl. [Lan92], S.15
   
   6 was nicht nur der Titel von Suters/Böhlers Anthologie belegt,
   sondern auch die Namen einschlägiger Netzforen wie ht_lit (für
   ,,hypertext literature``)
   
   7 Viele Computer-Hypertexte könnten problemlos auch als
   enzyklopädisch gegliederte Bücher gedruckt werden, so zum Beispiel
   auch Heiko Idensens und Matthias Krohns Imaginäre Bibliothek [IK],
   die älteste und meiner Meinung nach beste deutschsprachige
   Hypertext-Dichtung.
   
   8 Eine ähnliche Kritik formuliert [Aar97] , S.76-80
   
   9 Vgl. [Fou77], [Gys78] und [Mol63]
   
   10 Die Londoner Künstlergruppe mongrel hat eine Suchmaschine
   www.mongrel.org.uk ins World Wide Web gestellt, deren Programmierung
   so manipuliert ist, daß sie bei der Suche nach rassistischen
   Stichwörtern vorgefertigte Texte zurückgibt, ohne daß der Leser es
   merkt.
   
   11 Fast alle Netzliteratur beschränkt ihr Experimentieren auf
   Benutzeroberflächen und fällt damit weiterhin hinter die ästhetische
   Konsequenz älterer computergenerierter Dichtung zurück, die im
   Umfeld von konkreter Poesie, Oulipo und Cutup-Literatur programmiert
   wurden.
   
   12 Auf der Website des wegen seines selbstgerechten
   Kommunikationsterrorismus umstrittenenen Netzkünstlers antiorp
   findet sich ein ASCII-Film http://m9ndfukc.com/kinematik.
   
   13 eine Übersetzung aus dem Mezangelle ins Englische findet sich
   unter Translation: A Report
   http://wollongong.starway.net.au/~mezandwalt/natore.htm
   
   14 Siehe Sondheims Homepage
   http://lists.village.virginia.edu/~spoons/internet_txt.html. Von
   Rainald Goetz Abfall-Tagebuch unterscheiden sich Sondheims Texte
   nicht nur in ihrem Sprachcode, sondern auch darin, daß sie nicht
   vorgeben, eine Außenwelt jenseits ihres Mediums zu referenzieren.
   
   15 Siehe dazu auch [WCS96], S.552 sowie Sharon Hopkins'
   Internet-Aufsatz Camels and Needles: Computer Poetry Meets the Perl
   Programming Language.
   
   16 s. [MB98], S. 47

  
  c/o Freie Universität Berlin, Seminar für Allgemeine und Vergleichende
             Literaturwissenschaft, Hüttenweg 9, 14195 Berlin



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