Florian Cramer on Sat, 29 Apr 2000 20:35:51 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Reinhard Döhl, Vom Computertext zur Netzkunst [1/2] |
Anmerkung: Mit diesem Vortrag wurde die Ausstellung "Liter@tur: Computer/Literatur/Internet" <http://www.netlit.de> eröffnet, siehe meinen Beitrag zuvor. Ich halte ihn jetzt schon für einen Standardtext (ganz im Gegensatz übrigens zu den Aufsätzen von Stefan Porombka und Hilmar Schmundt zu Netzliteratur bzw. Freier Software in der aktuellen Ausgabe der "Neuen Rundschau"). Ich habe den Text von HTML nach ASCII/ISO-Latin1 konvertiert. Das Originaldokument liegt hier: <http://www.uni-stuttgart.de/ndl1/computertext_netzkunst.htm> -FC * * * Reinhard Döhl Vom Computertext zur Netzkunst. Vom Bleisatz zum Hypertext Der klug formulierte Titel des Karlsruher Unternehmens, "Liter@tur. Computer / Literatur / Internet", stellt die Literatur zwischen den Computer auf der einen und das Internet auf der anderen Seite, zwischen Aufschreibsystem und -mittel und Erscheinungsform. Und er schreibt das a in Literatur als @ [ÿiter@tur]. Was schon optisch die Frage provoziert, ob wir es hier mit einer Literatur zwischen der Skylla Computer und der Charybdis Internet zu tun haben oder ob es sich bei einer mit dem Computer für das Netz geschriebenen Liter@tur um eine neue, eine @ndere Literatur handelt. Wobei ich als Konsens unterstelle, daß die Literatur sich nicht nur der Medien bedient, sondern die Medien auch die Erscheinungsformen der Literatur bedingen. Niemand wird ernsthaft Wechselwirkungen zwischen literarischer, allgemein künstlerischer Hervorbringung und den gewählten Aufschreibsystemen bezweifeln, in Frage stellen wollen, daß die kulturgeschichtlich gewichtigen Schritte von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, von individueller zu mechanisch vervielfältigter Schriftlichkeit durch Erfindung des Buchdrucks, und schließlich, mit Beginn des letzten Jahrhunderts, von der Schriftlichkeit zu elektronischer Herstellung und Verbreitung Veränderungen für die Literatur (wie allgemein die Künste) zur Folge hatten: durch den Rundfunk zum Beispiele zu einer neuen Mündlichkeit, durch den Computer zu einer neuen Schriftlichkeit, die noch das Bild mit einschließt. Aleatorische Kunst Dabei unterscheide ich zunächst zwischen zwei Textsorten: * Dem improvisierten automatischen Text bei dem die traditionelle Vorstellung, der Dichter schreibe aus einer inneren Schau, aus Inspiration, aus dem Un- und Unterbewußten (göttlicher) Eingebung - zur Methode wird. Der Text wird quasi anonym und automatisch/unabsichtlich niedergeschrieben, etwa in frei improvisierten automatischen Texten (ÿcriture automatique), Zufallscollagen von Buchstaben, Worten, Sätzen oder ganzen Textpassagen. * Beim maschinell (oder analog) erzeugten Text wird die Forderung, ein Text müsse sich lehrbaren und nachvollziehbaren poetologischen Gesetzen fügen, werden traditionelle Verfahren des Schreibens ersetzt durch maschinell-kombinatorische Textgenerierung. Würfel-, Zufalls- und Computertexte - sogenannte stochastische Texte - sind hierher zu rechnen, ebenso aber auch von Autoren nach den strengen formalen Regeln erzeugte Texte. Die Geschichte des zufällig gefügten Textes weist Traditionslinien auf bis zurück in den Manierismus und den Barock, wo er z.B. in Georg Philipp Harsdörffers "Frauen-Zimmer Gesprech-Spiel[en]" (1641-49) beim "Wörterzuwurf" gesellschaftliches Spiel ist, ebenso im 18./19. Jahrhundert, in dem die Aleatorik an Bedeutung gewinnt, ich nenne als ein Beispiel "Neunhundert neun und neunzig und noch etliche Almanachs-Lustspiele durch den Würfel. Das ist: Almanach dramatischer Spiele für die Jahre 1829 bis 1961 [sic]. Ein Noth- und Hülfs-Büchlein für alle stehenden, gehenden und verwehenden Bühnen so wie für alle Liebhabertheater und Theaterliebhaber Deutschlands. Von Simplicius der freien Künste Magister". Satirisch auf Wissenschafts-Rationalismus des 18. Jahrhunderts zielt Jonathan Swift in der Beschreibung einer Maschine, die mit ihrer zufälligen Textproduktion die spekulativen Wissenschaften durch praktische und mechanische Operationen [...] verbessern soll ("Gullivers Reisen" III, 5; 1726). Gulliver erhält auf seiner dritten Reise die Erlaubnis, die große Akademie der Hauptstadt Lagado zu besichtigen. Der erste Professor [...] führte mich an einen Rahmen, wo alle seine Schüler in Reihen aufgestellt waren. Der Rahmen war zwanzig Quadratfuß groß und befand sich in der Mitte des Zimmers. Die Oberfläche bestand aus einzelnen Holzstücken von der Dicke eines Würfels, von denen jedoch einzelne größer als andere waren. Sie waren sämtlich durch dünne Drähte miteinander verknüpft. Diese Holzstücke waren an jeder Fläche mit überklebtem Papier bedeckt, und auf diesen Papieren waren alle Worte der Landessprache, und zwar in den verschiedenen Modis, in Konjugationen und Deklinationen, jedoch ohne alle Ordnung aufgeschrieben: Der Professor bat mich achtzugeben, da er nun seine Maschine in Bewegung setzen wolle. Jeder Zögling nahm auf seinen Befehl einen eisernen Griffel zur Hand, von denen vierzig am Rande des Rahmens befestigt waren. Durch eine plötzliche Umdrehung wurde dann die ganze Anordnung der Wörter verändert. Alsdann befahl er sechsunddreißig der jungen Leute, die verschiedenen Zeilen langsam zu lesen, und wann sie drei oder vier Wörter ausgefunden hatten, die einen Satz bilden konnten, diktierten sie dieselben den vier anderen, welche sie niederschrieben. [...] Der Professor zeigte mir mehrere Folianten, welche auf diese Weise mit Bruchstücken von Sätzen gefüllt waren und die er zusammenstellen wollte. Aus diesem reichen Material werde er der Welt ein vollständiges System aller Wissenschaften und Künste geben, ein Verfahren, das er jedoch verbessern und schneller beendigen könne, wenn das Publikum ein Kapital zusammenbringen wolle, um fünfhundert solcher Rahmen in Lagado zu errichten, und wenn man die Unternehmer veranlassen würde, die verschiedenen Sammlungen zu einer gemeinsamen zu vereinigen. Das liest sich auch heute noch nicht ohne Ironie, * einmal wegen des unverhohlenen Buhlens um Sponsorengelder, * zum anderen, wenn man an das für die Internetdiskussion folgenreiche, freilich für mechanische Lesegeräte konzipierte Memex-Projekt Vannevar Bush's denkt, ich komme darauf noch einmal zu sprechen, * zum dritten, wenn man den Namen einer der größten Suchmaschinen, "Yahoo", als Anspielung auf Jonathan Swifts "Travels into Several Remote Nations of the World" erkennt, direkt auf die menschenähnlichen Diener der Houyhnhnms im 4. Buch, der "Reise in das Land der Houyhnhnms" bezieht, indirekt aber auch auf jene textherstellende Maschine an der großen Akademie von Lagado, die uns in den 60er Jahren eine spielerisch ironische Vorwegnahme des textverarbeitenden Computers schien. Die Stuttgarter Gruppe/Schule Wenn ich mich im Folgenden vor allem auf Stuttgart konzentriere, geschieht dies * weil für die Stuttgarter Gruppe / Schule um Max Bense sehr früh bereits - im Rahmen ihres Interesses an experimenteller Literatur - das Produzieren und eine Theorie stochastischer Texte und Computergrafik eine Rolle gespielt haben, * weil wir in Stuttgart seit einiger Zeit in dieser Tradition auch mit offenen Internet-Projekten experimentieren und weil * die Stadtbücherei Stuttgart im Rahmen ihrer Neuinszenierung einen "futuristischen leses@lon" eingerichtet hat, in dem, neben der traditionellen Lektüre und Ausleihe von Büchern, der Benutzer jederzeit im Internet surfen und/oder sich in die für ihn dort bereitgestellte Literatur des Internets vertiefen kann. Ein Charakteristikum der in soziologischen Verständnis offenen Stuttgarter Gruppe/Schule war sehr früh bereits ihr Interesse an einer Verbindung von künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen. Bereits im Oktober/Dezemberheft 1959 der "Zeitschrift für Tendenz und Experiment", "augenblick", veröffentlichte der Mathematiker Theo Lutz einen Aufsatz über mit Hilfe der Großrechenanlage ZUSE Z 22 im Rechenzentrum der Stuttgarter damals noch Technischen Hochschule geschriebene "Stochastische Texte", in dem er referierte, daß die ursprünglich [...] für die Bedürfnisse der praktischen Mathematik und der rechnenden Technik entwickelten programmgesteuerten, elektronischen Rechenanlagen eine Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten böten. Für die Benutzer derartiger Rechenanlagen sei nicht entscheidend, was die Maschine tue, wichtig [...] allein sei, wie man die Funktion der Maschine interpretiere. Die Stuttgarter Gruppe/Schule interpretierte wissenschaftlich, indem sie mit Hilfe elektronischer Rechenanlagen Häufigkeitswörterbücher herstellte und für exakte statistische und ästhetische Textanalysen nutzte; sie interpretierte aber auch literarisch, indem sie das Verfahren der Herstellung von Wortindices praktisch umkehrte und den Computer anwies, mit Hilfe eines eingegebenen Lexikons und einer Anzahl von syntaktischen Regeln Texte zu synthetisieren und auszugeben. Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, NICHT JEDER BLICK IST NAH. KEIN DORF IST SPÄT. EIN SCHLOSS IST FREI UND JEDER BAUER IST FERN. JEDER FREMDE IST FERN: EIN TAG IST SPÄT. JEDES HAUS IST DUNKEL: EIN AUGE IST TIEF. NICHT JEDES SCHLOSS IST ALT. JEDER TAG IST ALT. NICHT JEDER GAST IST WÜTEND. EINE KIRCHE IST SCHMAL. KEIN HAUS IST OFFEN UND NICHT JEDE KIRCHE IST STILL. JEDER WEG IST NAH. NICHT JEDES SCHLOSS IST LEISE. KEIN TISCH IST SCHMAL UND JEDER TURM IST NEU. JEDER BAUER IST FREI. JEDER BAUER IST NAH. KEIN WEG IST GUT ODER NICHT JEDER GRAF IST OFFEN. NICHT JEDER TAG IST GROSS. JEDES HAUS IST STILL. EIN WEG IST GUT. NICHT JEDER GRAF IST DUNKEL. JEDER FREMDE IST FREI. JEDES DORF IST NEU. JEDES SCHLOSS IST FREI. NICHT JEDER BAUER IST GROSS. NICHT JEDER TURM IST GROSS ODER NICHT JEDER BLICK IST FREI. [...] Das erste Programm von 1959, das aus circa 200 Befehlen bestand, brachte aus heutiger Sicht zwar noch kein aufregendes Ergebnis, hatte aber für uns den Wert einer Inkunabel künstlicher Poesie, die Max Bense kurze Zeit später auch theoretisch von der natürlichen Poesie unterschied: Unter der natürlichen Poesie wird hier die Art von Poesie verstanden, die [...] ein personales poetisches Bewußtsein [...] zur Voraussetzung hat ein Bewußtsein, das Erlebnisse, Erfahrungen, Gefühle, Erinnerungen, Gedanken, Vorstellungen einer Einbildungskraft etc., kurz eine präexistente Welt besitzt und ihr sprachlichen Ausdruck zu verleihen vermag. [...] Das poetische Bewußtsein in diesem Sinne ist ein prinzipiell transponierendes, nämlich Seiendes in Zeichen, und den Inbegriff dieser Zeichen nennen wir Sprache, sofern sie metalinguistisch eine Ichrelation und einen Weltaspekt besitzt. In dieser natürlichen Poesie hört also das Schreiben nicht auf, eine ontologische Fortsetzung zu sein. [...] Unter der künstlichen Poesie hingegen wird hier eine Art von Poesie verstanden, in der es, sofern sie z.B. maschinell hervorgebracht werde, kein personales poetisches Bewußtsein [...], also keine präexistente Welt gibt, und in der das Schreiben keine ontologische Fortsetzung mehr ist, durch die der Weltaspekt der Worte auf ein Ich bezogen werden könnte. Während also für die natürliche Poesie ein intentionaler Anfang des Wortprozesses charakteristisch ist, kann es für die künstliche Poesie nur einen materialen Ursprung geben. An weiteren Unterschieden seien noch genannt die Interpretierbarkeit der natürlichen und die Nichtinterpretierbarkeit der künstlichen Poesie, der Modus der Unwillkürlichkeit für die künstliche und der Modus der Willkürlichkeit für die natürliche Poesie. Wobei sich - was uns die Sache besondes aufregend machte - eine Begriffspaar aus dem "Allgemeinen Brouillon" des Romantikers Novalis in seiner Bedeutung geradezu umkehrte. Spuren solch künstlicher Poesie lassen sich, eingearbeitet in natürliche Texte, z.B. in meinen "fingerübungen" (1962), der "Prosa zum Beispiel" (1965) oder in Max Benses/Ludwig Harigs "Monolog der Terry Jo" aus dem Jahre 1968 finden. Ich zitiere nach dem Tondokument die Vorbemerkung des für die Regie verantwortlichen und wohl auch als Co-Autor anzusprechenden Heinz Hostnigs: Der Monolog beginnt mit einem Computer-Text. Es sind neun synthetische Annäherungen an die Sprache des Mädchens. Die Tatsache, daß gewisse Analogien zwischen dem zu Anfang unbewußten Zustand des Mädchens und der Unbewußtheit eines Computers bestehen, ließ diese erste Verwendung eines mit einer programmgesteuerten Maschine hergestellten Textes in einem Hörspiel gerechtfertigt erscheinen. Diese Computertexte des Monologs werden in der Realisation übersetzt in eine durch ein kompliziertes Vocoder-Verfahren hergestellte synthetische Sprache, die im Verlauf des Monologs mehr und mehr abgebaut und von der natürlichen Stimme abgelöst wird. Daß natürliche und künstliche Poesie sich in unseren damaligen Texten mischten, sagte ich und füge hinzu, daß dies auseinanderzuhalten selbst Kennern der damaligen Experimente oft schwer fällt. Ein Beispiel: MEIN Standpunkt und der Kirschbaum oder die Wegfahrt und der Überblick oder die Handhabe und das Fortbleiben oder Josef. K. und der Vormärz oder die Polizei und das dritte Fenster oder ein Horizont und das zerrissene Blatt oder der Duft und der Anflug das Verwelkte und das Schiff oder das Unerwartete und das Wort oder die Zärtlichkeit und das Gehen oder das Lesebuch und das Selbst oder die Nachwelt und Paris oder das ermüdete Sein und noch ein Händedruck oder irgendwo und Niemand. Und zum Vergleich: A house of paper among high mountains using natural light inhabited by fishermen and families A house of leaves by a river using candles inhabited by people speaking many languages wearing little or no clothes A house of wood by an abandoned lake using candles inhabited by people from many walks of life [...] A house of dust in a place with both heavy rain and bright sun using all available lighting inhabited by friends Keiner, der die beiden Texte nicht kennt, kann mit Sicherheit vermuten, geschweige denn entscheiden, daß es sich bei Textbeispiel 1 um einen Autortext, einen durch Würfeln aus einer Tageszeitung und dem Roman Franz Kafkas zufällig bestimmten "Dünnschliff" (1961) Max Benses [vgl. auch meine Interpretation], und bei Textbeispiel 2 um ein hier nur auszugsweise zitiertes Computergedicht der Happening-Künstlerin Allison Knowles handelt. Alison Knowles "A House of Dust" von 1968 war eine der letzten Publikationen von Computertexten, die wir damals diskutierten. Ich darf diese Jahre deshalb noch einmal mit Ergänzungen rekapitulieren: * 1959 berichtete Theo Lutz im "augenblick" mit Textbeispielen über ein Programm zur Erzeugung stochastischer Zufallstexte. * Am 13.12.1960 hält Piere Barbauds im Studium Generale der TH Stuttgart einen Vortrag "Der künstliche Komponist". * 1961 berichtet Max Bense in "Zeitgenössische Literatur in Deutschland", einem Vortrag auf den "Morsbroicher Kunsttagen 1961" (Schloß Morsbroich, 5.- 7. Mai 1961), unter anderem über die Stuttgarter Schreibexperimente und löst damit heftige Reaktionen aus. * 1962 erscheint in der von Max Bense und Elisabeth Walther herausgegebenen Reihe "rot" Abraham A. Moles' "Erstes Manifest der permutationellen Kunst". * 1963 berichtet S.R. Levin in "The University of Texas Studies in Literature and Language" über die automatische Produktion poetischer Sequenzen. * Im gleichen Jahr übrigens, in dem unabhängig voneinander in Stuttgart und Erlangen die ersten Grafiken von digitalen elektronischen Rechenanlagen mit Hilfe eines Zeichengerätes hergestellt werden. * Derart computergenerierte Grafik wird erstmals am 4. Februar 1965 in einer in ihrem Verlauf äußerst turbulenten Ausstellung in der Galerie des Studium Generale der TH Stuttgart vorgestellt mit Arbeiten und einem Vortrag von Georg Nees, gefolgt von einer gemeinsamen Ausstellung mit Arbeiten von Georg Nees und Frieder Nake in der Galerie der Buchhandlung Wendelin Niedlich im November des gleichen Jahres. * Beide Ausstellungen werden von Max Bense eröffnet, der 1968 auch die Anregung zu der von Jasia Reichardt im "Institute of Contemporary Arts" in London erarbeiteten Ausstellung "Cybernetic Serendipity" gibt, wo bereits 1965 eine für die Grenzbereich Literatur/Bildende Kunst ähnlich wichtige Ausstellung, "Between Poetry and Painting", ebenfalls mit Stuttgarter Assistenz, gezeigt wurde. * 1966 berichtet Gerhard Stickel in "Der Deutschunterricht" über seine mit Hilfe einer IBM-7090-Rechenanlage des Deutschen Rechenzentrums in Darmstadt hergestellten "Monte-Carlo-Texte" bzw. "Auto-Poeme", und wählt mit "Autopoem" einen Begriff, den ich damals übernommen habe. * Die von der Stuttgarter Edition und Galerie Hansjörg Mayer und der Siebdruckerei Domberger edierte Mappe "16 4 66" enthält neben Computergrafiken Frieder Nakes auch mit dem Lichtsatz gesetzte gespiegelte "Coldtypestructures" von Klaus Burkhardts und Gedichte von mir, die heute jeder leicht auf seinem PC herstellen könnte. * 1967 programmieren und geben Manfred Krause und Götz F. Schaudt ein Bändchen "Computer-Lyrik. Poesie aus dem Elektronenrechner" heraus: Das Laub ist aufgeflimmert die tote Seele wimmert zum Greise nah und gar der Schein perlt frei und stecket und an den Blüten recket die weite Woge unsichtbar Wir lieben Schwanenlieder sind linde grüne Flieder und sind so mild und klar wir lichten Donnerklänge und schenken süße Sänge und liegen oben in dem Haar Das war keine Unsinnspoesie, die bewußt den Sinn verstellt, aber auch keine Parodie des Claudiusschen "Der Mond ist aufgegangen" oder des Gerhardtschen "Nun ruhen alle Wälder", sondern das Gedicht einer der Programmiersprache ALGOL [Kunstwort aus algorithmic language] hörigen Rechenmaschine ZUSE Z 23, Nachfolgerin der ZUSE Z 22, die wir in Stuttgart zum Dichten angestiftet hatten. Anläßlich dieser Buchpublikation findet in den Düsseldorfer Kammerspielen unter Stuttgarter Beteiligung eine Podiumsdiskussion mit z.T. erregten Einsprüchen des Publikums statt, die auch Ängste artikulieren. 1968 erscheint von Allison Knowles, zu der wir über die Stuttgarter Galerie und Edition Hansjörg Mayer Kontakt hatten, "The House of Dust", sendet der Saarländische Rundfunk in einer Übersetzung und deutschen Fassung von Eugen Helmlé Georges Perecs "Die Maschine", ein Hörspiel, das die Arbeitsweise eines Computers simulierte und uns, die wir ja vom Text zum Computer gekommen waren, wie ein vorläufiger Schlußstrich erschien. 1969 werden - wenn ich mich recht erinnere ein letztes Mal - "Autopoems" ausgedruckt, erscheinen die "poem structures in the looking glass" von Klaus Burkhardt und mir. 1970 schließlich sendet der WDR meinen Radio-Essay "Sprache und Elektronik. Über neue technische Möglichkeiten, Literatur zu erstellen und rezipieren", der von Helmut Heißenbüttel für den SDR übernommen wird. Wir haben diese Ansätze außer in Vorträgen und Diskussionen damals nicht weiter verfolgt, sondern unser Interesse an künstlerischer Produktion mit neuen Medien und Aufschreibsystemen in andere Richtungen ausgedehnt. Netzdichtung ist kein Synonym für Computerdichtung Wichtig scheint mir dabei der Hinweis, daß diese Experimente mit stochastischen Texten bzw. Autopoemen, mit computergenerierter Grafik, konkreter Musik und der Verbindung von Sprache und Elektronik parallel zu verstehen sind mit dem in Stuttgart damals virulenten Interesse an einer konkreten bzw. visuellen Poesie, an Permutationen, Würfeltexten oder dem Cut-up-Verfahren, so daß das einzige, von Bense und mir geschriebene Manifest der Stuttgarter Gruppe/Schule, "Zur Lage" in Bündelung einer Vielzahl experimentell erprobter Textsorten folgende Tendenzen unterschied: 1. Buchstaben ÿypenarrangements ûuchstaben-Bilder 2. Zeichen ÿrafisches Arrangement ÿchrift-Bilder 3. serielle und permutationelle Realisation ÿetrische und akustische Poesie 4. Klang ÿlangliches Arrangement ÿhonetische Poesie 5. stochastische und topologische Poesie 6. kybernetische und materiale Poesie; dann aber hinzufügte, daßin den meisten Fällen [...] diese Möglichkeiten nicht in reiner Form verwirklicht und vorgeführt würden. Wir ziehen die Poesie der Mischformen vor. Solche Mischformen wurden 1972 auch Thema einer Wanderaustellung der Staatsgalerie Stuttgart ("Grenzgebiete der bildenden Kunst"), an deren Aufbau wir mitgearbeitet hatten. Sie umfaßte die Teile "Konkrete Poesie / Bild Text Textbilder", "Computerkunst" und "Musikalische Graphik". Es scheint notwendig, daran zu erinnern, daß es neben dem Interesse an den Wechselbeziehungen zwischen Kunsthervorbringung und neuen Aufschreibsystemen in Seminaren, vor allem in Veranstaltungen des Studium Generale und in Publikationen selbstverständlich ein ebenso großes Interesse an internationaler experimenteller Literatur, Kunst und ihren Traditionen gab, das historisch eine Auseinandersetzung mit dem Werk Gertrude Steins, dessen Rezeption bis heute wesentlich in Stuttgart stattfindet, James Joyces, dem Kubismus, Dadaismus und anderen Ismen einschloß. Aktuell diskutierten und veröffentlichten wir über Werke des Nouveau Roman, Raymond Queneaus, Georges Perecs, Marc Saportas, der Beat Generation u.a. Wenn Haroldo de Campos 1970 schrieb: now i'm cummings! pound attention! finneganswait for me! joyce a moment! mallarmé! and arno holzwege! deutet er über das Wortspiel hinaus ein Feld damaliger und anhaltender Interessen an. Der Name Campos, der hier auch für die Brasilianische Noigandres-Gruppe steht, verweist zugleich auf ein weiteres Wasserzeichen der Stuttgarter Gruppe/Schule, ihre internationale Verflechtung vor allem mit Brasilien, Japan, Frankreich, der damals noch Tschechoslowakischen Republik und den Vereinigen Staaten, ein Netzwerk, das sich in internationalen Gemeinschaftsarbeiten und Korrespondenzen u.a. in der Tradition des japanischen Renga/Renku/Renshi oder der mail art über die Jahre fortknüpfte und durch Publikationen und Ausstellungen in den 90er Jahren ausreichend dokumentiert ist. Meine Aufzählung, die inhaltlich im einzelnen aufzufüllen hier die Zeit fehlt, möchte belegen, daß sich bereits vor und auch unabhängig vom Internet Netzwerke aufbauen (und wie ich noch zeigen werde) fürs Internet nutzen lassen: Netzdichtung ist kein Synonym für Computerdichtung. Ein Symposium mit Folgen Als sich 1994 auf dem Stuttgarter "Symposium Max Bense" Wissenschaftler und Künstler trafen, ging es retrospektiv erklärlicherweise auch um die internationalen Wechselbeziehungen der Stuttgarter Gruppe/Schule. Aber wir begannen infolge dieses Symposiums auch, in der Tradition unserer frühen Experimente die reproduktiven und produktiven Möglichkeiten des Internets zu diskutieren, wobei es nahe lag, den Gedanken der poetischen Korrespondenz für das Internet, das Internet für ihm gemäße und mögliche poetische Vernetzungen zu nutzen, und dies in mehrfacher Hinsicht. * Reproduktiv bot sich das Internet an als ein Ort, die im offiziellen Kultur- und Kunstbetrieb nur bedingt wahrgenommenen Interessen der Stuttgarter Gruppe/Schule in Erinnerung zu bringen ["Als Stuttgart Schule machte"]. * Ausgangspunkt für die produktiven Stuttgarter Internetprojekte, die in der Regel zusammen mit Johannes Auer realisiert wurden (und werden), waren dagegen aktuelle Anlässe: "H.H.H. Eine Fastschrift" entstand anläßlich des 75sten Geburtstags Helmut Heißenbüttels und wurde, bedingt durch seinen plötzlichen Tod, mit einem wiederum weltweit geknüpften "Epilog" abgeschlossen. Am 50. Todestag Gertrude Steins errichteten wir ihr zu Ehren ein virtuelles internationales "Epitaph", das wir mit einer Ausstellung, dem "Memorial Gertrude Stein" vernetzten dergestalt, daß das "Epitaph" auch Teil der "Memorials" war, das seinerseits den Schlußstein des "Epitaphs" setzte. Auch die Max Bense gewidmete Ausstellung "Kunstraum-Sprachraum" 1999 in Uelzen konfrontierte das Buch mit der Kalligraphie, auf verschiedene Art Geschriebenes mit auf verschiedene Weise Gedrucktem, um sich schließlich im Rathaus off line, im Medien-Café on line in einen virtuellen Ausstellungsraum zu öffnen, der auf dem Server der Stuttgarter Stadtbücherei von Johannes Auer für diese Uelzener Ausstellung mit virtuellen Exponaten bestückt wurde. [Teil 2 folgt] -- Florian Cramer, PGP public key ID 6440BA05 <http://userpage.fu-berlin.de/~cantsin/index.cgi> please PGP-encrypt private mail ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost