Tilman Baumgaertel on Mon, 22 May 2000 09:52:16 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Software-Kunst III


IX. Sets of instructions II

"The idea becomes the machine that makes the art", hat Sol LeWitt 1967 in
einem berühmt gewordenen Manifest der Konzeptkunst dekretiert. In den
Computerprogrammen von Künstlern der Gegenwart ist diese Vorstellung zu
einem radikaleren Ende getrieben worden, als die Generation der frühen
conceptual artists mit ihren Handlungsanweisungen und ihren Konzepten (die
im Fall von LeWitt längst wieder zu dekorativen Wandmalereien geworden
sind) es je zu träumen gewagt hätten. Die Software-Projekte der letzten
Jahre führen - im Wortsinn - Dinge aus, die Künstler vor mehr als zwanzig
Jahren mit der Schreibmaschine niedergeschrieben hätten - hätten sie denn
gewusst, was ein Pentium-III-PC im Jahr 2000 ausrechnen kann. 

Doch diesem Essay geht es nicht darum, die Conceptual Art der Sixties zu
diskreditieren oder gegen die experimentelle Software der Gegenwart
auszuspielen. Es soll auch nicht die Software von Künstlern der Gegenwart -
die von traditionellen Kunstbetrieb der Gegenwart hartnäckig ignoriert
werden - nachträglich als High Art nobilitieren werden. Die Programmen, die
in diesem Essay vorgestellt werden soll, könnten zwar durchaus als quasi
naturwüchsige "letzte Konsequenz" bestimmter Tendenzen in der Kunst der
Moderne betrachtet werden. Aber sie erschöpfen sich darin nicht.
Interessanter ist es, sich diese Software nicht nur als Kunst (und auch
nicht als "Anti-Kunst") anzusehen, sondern als "Nicht-nur-Kunst", wie es
Matthew Fuller von I/O/D nahegelegt hat  . Der Vergleich zwischen der
historischen Konzeptkunst aus den späten 60er und frühen 70er Jahren und
der Computer-basierten Kunst der Gegenwart offenbart vielmehr ein
interessantes Konfliktfeld zwischen der avanciertesten Kunstpraktik der
60er Jahre, der Zeit, in der sich die sogenannte "Informationsgesellschaft"
formierte, und den avanciertesten Kunstpraktiken der Gegenwart, in der
diese Informationsgesellschaft zur täglichen - und keineswegs überwiegend
erfreulichen - Realität einer Mehrheit der Menschen in der sogenannten
"Ersten" Welt geworden ist. 

Die Software von Künstlern, die in diesem Essay beschrieben wird, sind
potentiell für jeden erhältlich und benutzbar: sie können umsonst aus dem
Internet auf den privaten Computer heruntergeladen werden. Wenn man
Kunstterminologie benutzt, sind diese Software-Kunstwerke Multiples in
unbegrenzter Auflage; wenn man Computerterminologie benutzt, sind sie
Freeware, Gratis-Software von fanatischen Programmierern; wenn man
realistisch ist, sind sie schneller vergessen, als sie programmiert wurden
(also in zwei, drei Jahren), weil sie für Betriebssysteme geschrieben
wurden, die schon bald wieder obsolet sein werden. Sie sind entstanden aus
dem Umfeld der Netzkunst, aber fast alle laufen auf dem eigenen PC; sie
brauchen das Internet meist nicht als Bedingung, sondern nur als
Möglichkeit (obwohl die meisten der Künstler, die sie geschrieben haben,
auch im Internet aktiv sind). 

Viele dieser Software-Projekte sind in gewisser Hinsicht Fortsetzungen der
Arbeiten, die in den 60er und 70er Jahren unter dem Label "Computerkunst"
entstanden sind. Die Computerkunst, wie auch die mit Computern generierten
Texte und Kompositionen aus dieser Zeit, sind ungeliebte Kinder der
künstlerischen Gattungen geblieben, denen sie sich zugehörig fühlten. Sie
wurden von den Geisteswissenschaften kaum berücksichtigt, geschweige denn
in den Kanon der Literatur, der Kunstgeschichte oder der Musikwissenschaft
übernommen worden. Anhand Arbeiten, die als damals als Computerkunst
firmierten, ist aus heutiger Perspektive auch leicht zu klären, warum sich
die Kunstwelt von diesen Arbeiten kaum angezogen fühlte. Die abstrakten
Figuren und Formen, die Künstlern wie Herbert W. Franke, Frieder Nake,
Kenneth Knowlton, Georg Nees oder Michael Noll mit Hilfe der damaligen
Mainframe-Computern schufen waren mit ihren geometrischen Formen, ihren
Linien, Rechtecken und Kreisen, leicht als ein aufgewärmter, ästhetisch
antiquierter Konstruktivismus abzutun. 

Aus heutiger Sicht erscheinen freilich viele der Werke der Computerkunst in
ihrer Methode als Konzeptkunst. Der Künstler Herbert W. Franke, der mit
einer ganzen Reihe von Büchern als Propagandist der Computerkunst
aufgetreten ist, betonte in seinem Buch "Leonardo 2000", dass die
Computerkünstler die "Idee über die Realisation" stellten und wies auch
selbst auf die Parallele zur Konzeptkunst hin . Tatsächlich waren die
meisten Arbeiten aus dem Genre der Computerkunst jedoch Drucke, die mit
Plottern und Nadeldruckern auf Papier ausgegeben wurden. Diese Bilder waren
zwar das Produkt von - oft von den Künstlern selbst oder in ihrem Auftrag
geschriebenen - Programmen. Doch obwohl sie das Resultat des Ablaufs von
Computerroutinen waren, war das Kunstwerk, das gezeigt wurde, ein relativ
traditionell wirkendes Bild, aber nicht das Programm, das diese Werke
hervorgebracht hatte. 

Doch auch wenn die "klassische" Computerkunst einem traditionellem
Kunstverständnis durch ihre Praxis entgegenarbeitete, lehnte sie dieses in
ihrer Theorie ab und verstand sich eigentlich als Kritik am
"Originalkünstlertums" und am existierenden Kunstsystems. 1973 schrieb
Franke:  "In der apparativen Kunst verschwindet die Kunst des Originals;
zum Teil gibt es dieses überhaupt nicht mehr; an seine Stelle tritt das
Programm. Es entspricht den Noten in der Musik, der Partitur, die das
betreffende Musikstück in einer codierten Form enthält - und damit den
gesamten immateriellen Wert. Nur in der bildenden Kunst mit ihrem Mangel an
Reproduktionsmöglichkeiten konnte es zur Überbewertung des Realisats
kommen, was zu einigen kuriosen Entwicklungen geführt hat. Eine davon ist
die Kommerzialisierung des Kunsthandels, die Spekulation mit Werken der
bildenden Kunst, die Herausbildung von Stars, die hohe Preise auf dem
Kunstmarkt erzielen und deren Arbeiten wie Aktien gehandelt werden. Das
sind entscheidende Hemmnisse vor einer Demokratisierung - sie schließen
auch die Beteiligung breiter Kreise von vornherein aus. Somit weist die
apparative Kunst auch ein soziales Potential auf, das die Möglichkeit in
sich trägt, die Situation der Kunst im visuellen Sektor in wünschenswerter
Weise zu verändern."   

Der hier formulierte Anspruch war freilich durch die Praxis der meisten
Computerkünstler nicht gedeckt: sie produzierten traditionell wirkende
Kunstwerke, Drucke auf Papier. Die Programme, deren Resultat diese Arbeiten
waren, wurde nicht in den Vordergrund gestellt. Darin unterscheidet sich
die "klassische" Computerkunst von den Arbeiten, die in den letzten Jahren
als "Stand-alone-Application", also als autonomes Programm für den PC,
entstanden sind. Während die Arbeiten der Computerkünstler, die Franke in
seinen Büchern zu kanonisieren versuchte, dem "endgültigen" Produkt den
Vorrang geben, geht es bei der Künstler-Software der letzten Jahre
ausschließlich um den Prozess, der durch den Einsatz dieser Programme
ausgelöst wird. Während die Computerkunst der 60er und 70er Jahre die
Vorgänge im Computer nur als Methode, nicht als eigenes Werk betrachtete,
den Rechner als eine Art "Black Box" behandelten, und die Vorgänge in
seinem Inneren verschleierte, wollen die Software-Projekte der Gegenwart
genau diese Vorgänge thematisieren, sie transparent machen und zur
Diskussion stellen.

Das ist freilich die Kritik eines Nachgeborenen. Zu der Hochzeit der
"klassischen" Computerkunst waren Computer rare Maschinen, die fast
ausschließlich an Universitäten und in Firmen und so gut wie gar nicht im
Besitz von Privatpersonen zu finden waren. Computerprogramme selbst als
Kunstwerke zu produzieren und zu vertreiben war schon deshalb ein Unding,
weil sie fast niemand hätte benutzten können. Erste heute ist durch die
massive Verbreitung von Personal Computern ist die Idee, ein
Computerprogramm als Kunstwerk aufzufassen und an andere User
weiterzugeben, sinnvoll geworden. 

Die Programme von Künstlern, die in diesem Text vorgestellt wurden, sind
aber auch der Versuch, sich den Computer wieder als ein Stück Kulturgut
anzueignen, und seine Oberfläche und seine Festplatte nicht der Software
von einigen wenigen US-Konzernen überlassen, deren Vormachtstellung weniger
auf der Qualität ihrer Programme, sondern vor allem auf ihrer Marktmacht
beruht. Diese Arbeiten erobern den Desktop des Computers zurück für
kulturelle und künstlerische Aktivitäten, die nicht von den Produkten eines
bestimmten Großunternehmens abhängig sind. Sie hinterfragen die Dominanz
der "benutzerfreundlichen" Programme von Konzernen wie Microsoft und Apple,
denn sie zeigen den Computer als die vertrackte Maschine, die er
tatsächlich ist, und nicht als heitere Point-and-Klick-Apparatur, als den
ihn uns Programme mit Graphical User Interface (GUI) präsentieren. 

Das Graphical User Interface hat seit Anfang der 80er Jahre den Computer
von Geräte für eine kleine Kaste von Freaks zu einer Maschine für den
Hausgebrauch werden lassen, das grafisch navigierbare WorldWideWeb hat das
Internet vomPrivileg einer kleinen Gruppe von Akademikern und
Programmierern zum Massenmedium gemacht. Das sind ohne Zweifel
emanzipatorische Errungenschaften. Doch die leichtere Bedienbarkeit von
Rechner und Netz, die diese grafischen Oberflächen bedeuten, sind durch
eine Reduktion von Komplexität erkauft worden. Die Software-Projekte, die
dieser Artikel beschreibt, machen den Computer als hochkomplexe Maschine
wieder sichtbar. 


X. Some more beginnings…

Vor fast genau 30 Jahren fanden in New York zwei der wichtigsten
Ausstellungen der conceptual art und der sich formierenden Medienkunst
statt: "Information" (Museum of Modern Art, New York, 1970) und "Software"
(Jewish Museum, New York, 1971)  . Die Kunst-Software handelt genau davon,
was die Ausstellungstitel versprachen und die dazugehörigen Shows nur zum
Teil hielten. Sie sind Software, und sie verarbeiten Information. In diesem
Sinne haben sie uneingelöste Versprechen der Konzeptkunst realisiert. 

Die conceptual art der 60er Jahre, die bei diesen Ausstellungen gezeigt
wurde, kann heute auch als kulturelle Begleitmusik der Umwandlung der
westlichen Welt vom klassischen Kapitalismus, bei dem die Erwirtschaftung
eines Mehrwerts durch den Verkauf von materiellen Gütern entstand, zu einer
informationsbasierten Ökonomie, in der Mehrwert aus der Weitergabe von
Informationen entsteht, verstanden werden. Die frühen Werke der
Konzeptkunst bestanden nicht zu letzt deswegen ausschließlich aus
Information, weil sie sich der Produktion von warenförmigen Kunstprodukte,
die verkaufbar waren, entziehen wollten. 

Dass das ein vergebliches - und irgendwie auch anachronistisches -
Unterfangen war, zeigt nicht nur die Tatsache, dass die Werke der
Konzeptkunst sehr wohl wieder zu Produkten geworden sind, mit denen
gehandelt und spekuliert werden kann. Dazu haben nicht nur die Künstler
selbst beigetragen, die in ihrer Produktion bald dem Kunstmarkt
entgegengekommen sind. Dazu dass Kunst, die aus Informationen besteht, doch
wieder eine verkäuflichen Waren sein kann, hat auch die Entwicklung des
westlichen Kapitalismus der Moderne zu einer postmodernen
"Informationsgesellschaft" beigetragen. 

Wie sich die Software-Kunst in diesem Kontext positionieren wird, bleibt
abzuwarten. Bisher gibt es keinen Hinweis darauf, dass aus den
Computerprogrammen von Künstlern ein kunstmarktkompatibles Geschäftsmodell
erwachsen könnte, auch wenn einige der Software-Künstler versucht haben,
ihre Arbeiten zu verkaufen. Die meisten der Programme sind jedoch
"Freeware", also Gratis-Software, und werden es wohl auch bleiben. Ihr
"Mehrwert" könnte allenfalls in gesteigerter Wahrnehmung der Künstler, die
sie geschaffen haben, bestehen. Doch im Gegensatz zur Konzeptkunst, die
schon früh von einflussreichen Galeristen getragen und promotet wurde, ist
die Software-Kunst der Gegenwart zum größten Teil eine private Aktivität,
die jenseits des Kunstmarkts stattfindet und höchstens von staatlichen
Institutionen durch Stipendien oder durch die Einladung zu
Medienkunst-Festivals unterstützt wird. Das hat zweifellos zu der Qualität
der Arbeiten beigetragen, die so einen großen Freiraum für Experimenten
boten, weil sie sich nicht nach den Interessen von Galeristen und Sammlern
richten mussten. Wie sich die traditionelle Kunstwelt zu diesem Arbeiten
verhält ist allerdings unklar, denn bis jetzt hat sie diese nicht zur
Kenntnis genommen. 
 
Doch auch wenn die Programmierarbeiten der Gegenwart in gewisser Weise wie
Fortsetzungen der Konzeptkunst mit neuen Mitteln wirken, müssen sie
keineswegs ausschliesslich als Kunst betrachtet werden. Sie sind
"experimentelle Software", die für jeden interessant ist, der einen anderen
Blick auf seinen Computer werfen will. Dass es einen Bedarf danach gibt,
zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass ein Programm wie der "Web Stalker"
zusammen mit anderen Freeware-Programmen auf verschiedenen CD-Rom-Beilagen
von Computerzeitschriften in Großbritannien und Deutschland verbreitet
wurde  . Software-Arbeiten von Künstlern können als Kunst betrachtet
werden, aber man kann sie auch goutieren, ohne auch nur zu wissen, dass sie
Kunst sein sollen. Man muss nicht gleich davon träumen, "daß
Macintosh-Interface abzureissen und niederzubrennen", wie es I/O/D in einem
Interview vorschlagen. Aber Programme wie ihr "Web Stalker" erinnern daran,
dass das Bedienen von Microsoft Windows nicht die einzige Methode ist, mit
einem Computer zu interagieren; sie machen den Computer wieder ein bisschen
unzugänglicher und ein bisschen seltsamer als er uns heute gerne erscheinen
will. Und das kann ihm nur gut tun. 



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