Heiko Idensen on 7 Nov 2000 22:46:20 -0000


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[rohrpost] Hyperorganismen: Rhizome, Guerilla, Roboterschwaerme


Der gerade erschienene Band "Hyperorganismen" versammelt ein breites
Spektrum von Essays und Materialien - als radikaler Subtext und subversiver
Analyse zur Themenpark-Ausstellung "Wissen" bei der EXPO 2000 in Hannover:

Es wird sowohl der konzeptuelle und organisatorische Entstehungsprozeß
dokumentiert, als auch die Querbeziehungen zwischen den verschiedenen
"Partnern" eines solchen Mammutprojekts, sowie die Machtgefüge und die
teils schwierigen Kollaborationen des "größten Experiments in kollektiver
Robotik". Dabei werden die Brechungen der radikalen politisch-kulturellen
Grundidee zur Darstellung vernetzter Wissenssysteme mit den real
existierenden Strukturen und Vorgaben der EXPO 2000 überdeutlich:

das Schwarmdenken autonomer Wissensagenten oder Roboter oder wie immer man
die von Olaf Arndt aus dem Kontext der Künstlerguppe BBM "erfundenen"
Gebilde nennen will -  die eine der wenigen Zonen auf der EXPO bevölkert
haben, die wirklich mit den Besuchern in intime Interaktionen getreten sind
- erfährt in dem Band eine Ausbreitung in die verschiedensten Gebiete von
den Ingenieurswissenschaften, der Komplexitätstheorie, Robotik, Bio- und
Nanotechnologien ... bis hin zur kritischen Medientheorie.

Eine kurze Leseprobe aus dem Vorwort der HerausgerInnen macht das deutlich:

"Natürlich ist Biologie, mit allen ihren Komposita (wie Mikro- und
-techologie hochgradig interessant. Doch spannend wird solches Wissen erst
in seiner sozialen Ableitung, als Übersetzung in die Wissenschaft vom
menschlichen Zusammenleben. Das Rhizom beispielsweise ist - wie der
Schwarm- eine philosophische Idee, keine Pflanze: ein Hyperorganismus. Es
steht für ein stabiles, erfolgreiches System unterirdischer, subcutaner
Verzweigungen, Produkt der unschlagbaren 'Intelligenz der Natur'. Das
knotige Wurzelwerk Rhizom zeigt auf bildhafte Weise, was jedermann heute
noch von der in bestimmten linken Theoriekreisen  paradigmatisch gewordenen
vietnamesichen Guerilla lernen kann: zusammenhalten, aber nicht
zusammenhängen; unabhängig sein, aber eine Gemeinschaft bilden. ... Die
Wahl fiel auf den Schwarm, jedoch nicht, um das Leben der Datendrohnen in
einer postdarwinistischen Elektrowelt zu karikieren. Der Schwarm steht
lediglich für ein plausible äußere Form, die unmittelbar klar macht, wie
die sozialen Bewegungen und ihr künftiges Leben, ihre Möglichkeiten im
Umgang mit den neuen Medien funktionieren werden: jenseits von
vordergründigen Browserfaschismus-Ängsten und noch weiter außerhalb der
verlogenen affirmativen Ästhetik einer kollektiven Intelligenz des
,Netzes', das mit Hilfe unklar verschlungener, abflußähnlich gurgelnder,
alltäglich sich selbst fortspülender Neologismen den albernen Versuch
unternimmt, den Zusammenschluß von einem Telefonkabel und einem Bildschirm
zur zweiten Natur zu erklären."

Eine Besprechung des Bandes von mir findet sich in Telepolis unter:
EXPO-Themenpark als kultureller Hyperorganismus?
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/buch/4182/1.html

Anbei ist das komplette Vorwort zur Lektüre bereitgestellt von Olaf Arndt
(feedback: zkm-team-hannover@t-online.de), ergänzt um eine Linksammlung von
mir am Ende zu einigen Quellen der in den Hyperorganismen versammelten
Diskurse.

Viel Spaß beim "Vor"-Lesen!
Hei+co (idensen)

..........................................................................

Olaf Arndt, Stefanie Peter, Dagmar Wünnenberg (Hg.):
Hyperorganismen. Essays, Fotos, Sounds der Ausstellung "Wissen",
Internationalismus Verlag, Hannover 2000, incl. mixed Media CD-ROM
(enthält: 19 min-Sound-Remix, Animationsfilm und 19 min. dokumentarischen
Videofilm "72 Artefakte" von Carsten Aschmann und Agniesczka Jurek,
für Mac und PC), ISBN : 3-931126-54-4, DM 78,00 - SFR 72,00 - öS 569
Bestellungen: kundlatsch@internationalismus.de

Vorwort

          "Die Intellektuellen waren seit langem social unproduktiv geworden.
           Kunst grünte jetzt als Sportplatz gewerblicher Feigheit."[1]

Apparate und Geschäfte

Im August 1998 beauftragt ein Vertreter der Expo 2000[2], Stefan Iglhaut,
das ZKM[3] mit der Ausarbeitung einer Machbarkeitsstudie für eine
Ausstellung mit 150 autonomen, jedoch miteinander vernetzten und
koordiniert fahrenden Maschinen, die Videobilder auf ihre eigene Außenhaut
projizieren.

Das ist die Geburtsstunde des bislang größten Experiments in kollektiver
Robotik[4], das in kurzen Abständen zunächst zum "Schwarm der Expo"[5] und
schließlich zum "Eiffelturm des 21. Jahrhunderts"[6] mutieren sollte.

Diesem Auftrag waren Gespräche vorausgegangen, die Artichouk und Arndt für
die Künstlergruppe BBM[7] über mehr als ein Jahr mit Iglhaut, dem
Projektleiter der Ausstellung "Wissen, Information, Kommunikation"[8],
führten. Iglhaut kannte BBM bereits aus seiner Zeit als Mitarbeiter im
Siemens Kulturprogramm.


Zuvor war mit demselben Auftrag das französische Büro AlphaBet befasst und
hatte nach zwei Jahre langer Arbeit einen pompösen Entwurf vorgelegt: ein
hydraulisches Internetkostüm von 5000 qm, ganz mit Mensch gewordenen,
munter parlierenden Miyake-Perlen besetzt.

Der Szenograf Confino, Chefimpresario der Firma, hat seinen Ruhm, auf
spektakuläre Großinszenierungen abonniert zu sein, seit 1992 noch steigern
können: sein Beitrag zur Expo in Sevilla war nämlich am Tag vor der
Eröffnung abgebrannt. Confino gilt fortan als der Spezialist für virtuelle
Inszenierungen und seinem Namen haftet ein Schillern an, das geradezu
magisch ist.

Umso verwunderlicher, daß Expo seine Vorschläge zum Thema "Wissen" ablehnt.
Confinos Büro wird in Folge dessen zur Kooperation mit Arndt und Team
aufgefordert, die zu diesem Zeitpunkt noch als Freie agieren. Die daraus
resultierenden Designs enden in der gleichen ästhetischen Ecke[9]: als
stationär gedachte, quasi-automobile Multimediaräume, in denen der Besucher
eine Vielzahl modisch hoch dressierter Ereignisse aufnehmen soll.


Mit der Einsetzung des ZKM als Träger der BBM-Idee[10] beginnt nun die
Phase der Ausarbeitung eines komplexen Experimentes.

Die in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie umfasst das Konstruieren eines
voll funktionsfähigen Prototypen und das Einholen von Gutachten.

Um der Aufgabe gerecht werden zu können,spaltet sich die Gruppe BBM auf.

Die ursprünglichen Entwürfe zu einer "Universalmaschine" von Artichouk
(Konzept), Schönenbach (Erscheinungsbild der Objekte) und Bruckner
(Steuerung) werden von Arndt kurzerhand auf den Aspekt der schwarmartig
operierenden Serienobjekte[11] reduziert. Kippenbroek und Vierath bauen
innerhalb von 8 Wochen ein 2,4 m langes und ohne Batterien 65 kg schweres
ferngesteuertes Fahrzeugchassis, sowie zwei Modelle im Maßstab 1:10,
ebenfalls mit remote control. Arndt, Bruckner und der kanadische
Programmierer Schiffler fahren in die USA, zunächst ins AI Lab des M.I.T.
Boston. Dort forscht ein früherer Kombattant von BBM, George Homsy, an der
genetischen Programmierung von Escheria Coli-Bakterien[12]. Sie holen dort
seinen und den Rat von Bunnie Huang bezüglich "tracking system" und
Sensorik ein.

Schiffler hat einen "robot source code" entwickelt, der vorzüglich geeignet
ist, die Situation der Durchdringung zweier Gruppen (Besucher und
Schwarmroboter) zu simulieren. Mit dieser Animation ausgestattet, reisen
sie weiter nach Los Angeles, wo Maja Mataric[13] inzwischen ein eigenes
Institut leitet. Ihr und Barry Werger[14] wird das Projekt vorgestellt, und
in zwei Workshops spezifiziert man die Probleme.

Eines der Treffen findet in Pasadena an der Kaderschmiede Caltech statt, wo
Matarics Mann arbeitet. Es frappiert die Unbekümmertheit, mit der sie ihr
gerade wenige Wochen altes Baby zwischen Schildern mit "Biohazard"- und
"Radioactivity" -Warnungen plazieren, wie im Vertrauen darauf, daß die am
Institut allseits beforschte Nanotechnologie im Ernstfall schon alles
richten werde.

Matarics abschließendes Gutachten lautet:

      "Aufgrund meiner inzwischen 12jährigen Berufserfahrung auf dem Feld
      der Multi-Robot Systeme halte ich das vorgeschlagene Projekt für im
      höchsten Maße originell, herausfordernd und machbar.
      Wie auch immer, zur Vermeidung von Fehlfunktionen ist es ist nötig,
      eine Vielzahl von Experimenten durchzuführen.

      Ich rate daher dringend zu folgenden Maßnahmen:

      Das Team benötigt sechs Monate vor Ausstellungsbeginn ein komplett
      funktionierendes Set, um die Interaktion zwischen Robotern und
      Menschen zu testen. Simulationen reichen hierfür nicht aus.
      Die Entwicklung der Algorithmen und die Feineinstellung der Parameter
      kann weder mit kleineren Robotermodellen, noch mit einer geringeren
      Anzahl zu wirklich gültigen Ergebnissen führen. Nur mit einer
      ausreichenden Stückzahl endgültiger Maschinen kann überprüft werden,
      ob das System sicher ist und dem Besucher Freude bereiten kann.
      Es ist notwendig, ein wirklich verläßliches System zur Detektierung
      von Kollisionen einzusetzen, nicht nur um die Sicherheit zu
      garantieren, sondern vor allem auch um zu vermeiden, daß durch nicht
      erkannte Hindernisse das Fahrverhalten der Objekte empfindlich gestört
      wird.
      Hierfür ist eine Kombination verschiedener Sensorsysteme unerläßlich,
      da jedes System seine Qualitäten und Nachteile hat und diese nur durch
      gegenseitige Ergänzung ausgeglichen werden können. Wir empfehlen eine
      Kombination aus Kontaktsensoren, Ultraschall- und Infrarotsensorik.
      Ein großer Teil der Arbeit sollte in die Erstellung der
      Positionserkennung investiert werden. Das zuverlässige Erkennen von
      Multi-Robot Systemen stellt hohe Anforderungen an die Hardware, zumal
      die Sicherheit nur ein Aspekt, eine spannende Vorführung aber die
      wesentliche, zweite Aufgabe der Installation ist. Sind Daten zur
      globalen Position der Roboter im Raum und zueinander nicht verfügbar
      durch Ausfall oder Störung, agieren die Maschinen lediglich auf der
      Basis ihrer lokalen Sensorinformation. Das führt dazu, daß ein
      kooperatives Verhalten der Roboter ausgeschlossen ist. Bewegung und
      Ausweichen basieren dann auf Zufallsentscheidungen, was angesichts des
      großen technischen Potentials der Roboter jammerschade wäre.

      Können solche Fehlerquellen allerdings ausgeschlossen werden, so bin
      ich überzeugt, daß die Ausstellung auch den wissenschaftlichen state-
      of-the-art in kollektiver Robotik außerordentlich pushen wird.
      Es wird tatsächlich die größte, koordiniert arbeitende Gruppe von
      Robotern sein, die je zum Laufen gebracht wurde. Zudem, da sich
      Roboter und Menschen ohne Einschränkungen auf diesem Testfeld begegnen
      dürfen, wird es auch die Erkenntnisse über Mensch-Maschine
      Interaktionen erheblich vermehren. Auch das ist ein weiterer,
      außergewöhnlicher Beitrag zur laufenden Diskussion in der Forschung.

      Schließlich möchte ich vorschlagen, die Daten auszuspielen und zu
      speichern, die aus dem Verhalten von Mensch und Maschine zu gewinnen
      sind, um sie einer eingehenden wissenschaftlichen Analyse zu
      unterziehen. Dazu sollten das Tracking-System und zusätzliche Kameras
      an der Hallendecke eingesetzt werden.
      Diese Art von Daten sind interessant und aufgrund der Größe des
      Aufbaus von nahezu unschätzbarem Wert für Studenten der Robotik,
      Anthropologie und Psychologie."[15]

Mit diesem Papier ausgerüstet, geht die ZKM-Arbeitsgruppe in einen
Sitzungsmarathon und diskutiert mehrere Monate lang mit durchweg
skeptischen Vertretern von TÜV, Expo, Controllern und Bietern. Selbst die
Übersetzung des Papieres ändert zunächst wenig an seiner geringen Wirkung.
Namhafte deutsche Raumfahrtinstitute raten dringend von einer Umsetzung ab,
worauf die Rechtsabteilung der Generalübernehmer natürlich eher hören mag
als auf kalifornische Unterstützerprosa, die weder Funktions- noch
Höchstpreisgarantien einschließt.

Als aber ein Forschungsleiter von Siemens bei einer aufgedonnerten Expo-
Präsentation, übrigens in Unkenntnis des im Themenpark geplanten Vorhabens,
ebenfalls von der Bedeutung der Schwarmtheorie für die gegenwärtigen
Modelle zur Erklärung der Funktion komplexer Kommunikationsnetzwerke
berichtet, fühlt Parkleiter Roth sich im Zentrum einer von langer Hand
vorbereiteten Verschwörung zur Erzwingung der Inszenierungsvariante von
Arndt, den er ironisch-despektierlich als Cyborg-Rasputin etikettiert und
möglicherweise nicht zuletzt deswegen der Durchführung zustimmt.

Spät genug, denn die Produzenten sind schon monatelang "an Bord": die
Biege, eine Assoziation von einem guten Dutzend zumeist bayerischer
Mitglieder der deutschen Handwerkskammer hatte sich zum Zweck der
Errichtung des Themenparks zusammengeschlossen.

Mit Biege beginnt nun ein endloses verbales Gerangel. Sie haben am unteren
Rand des Ausstellungsgeländes in einer aufgelassenen Fabrikhalle Stellung
bezogen und den Herren vom ZKM "rein linguistische" Differenzen in der
Sache unterstellt. Hoyer, Bruckner und andere explizieren derweil ohne
Unterlaß den diversen, bisweilen wöchentlich wechselnden Planungsbüros,
Beratern, Projektkoordinatoren und Institutsleitern, teilweise zu mehr als
12 Personen auf der Grundfläche eines fensterlosen Containers
zusammengezwängt, in mäandernden paratechnischen Vorträgen den Unterschied
zwischen der Steuerung eines vollautomatisierten Walzwerks und einer bottom-
up Programmierung für autonom flottierende, elektromechanische Entitäten.

Kern aller Missverständnisse ist der nicht ganz zu recht als ideologisch
ausgelegte Ansatz des ZKM, sich die Ausstellung gegen alle Widerstände wie
Besuchermassen und Batterieresourcen als permanent in Bewegung
vorzustellen, statt die Sache vom Ausschalten her zu denken, wovon der
massive Gebrauch von Termini zeugt, die implizit Stillstand meinen.[16]

Bis zum erlösenden Wort des TÜV zwei Wochen vor der Eröffnung ist Bewegung
Synonym für Gefahr und daher für horrende Versicherungssummen.

Dem Vorschlag der Biege, das Fraunhofer Institut Dortmund mit der
Erstellung der Software zu betrauen, das eine hierarchische organisierte
Abwicklung der anstehenden Programmierprobleme präferiert, bei der die
"Freiheit" der Roboter darin besteht, vorgegebene "splints" abzufahren,
steht anfangs noch das Angebot zweier weiterer deutscher Institute
gegenüber.


Zu der Entscheidung zwischen einem zentralem Leitsystem und verteilter
Intelligenz, die der »Multiagent« durch "autonomes Verhalten" herstellt,
genügt ein Blick auf das Gutachten der deutschen Forschungsinstitute für
künstliche Intelligenz, GMD und DFKI (Bonn/Saarbrücken).

In ihrem Papier vom 18./19. Juni 1999[17] umreißen die Ingenieure einige
der technischen Grundfragestellungen zur Umsetzung der Idee der
Künstlergruppe BBM, 72 ortsunabhängig energieversorgte und im
Schwarmverbund agierende Roboter stündlich etwa 1000 Besuchern der
Weltausstellung Expo2000 auf "freiem Feld" gegenüberzustellen, mit
folgenden Worten: »Die künstlerische Zielsetzung kann nur schlecht als ein
Optimierungsproblem aufgefaßt werden. Tierisches Schwarmverhalten ist per
se nicht als Zielfunktion eines Leitsystems definiert, sondern als
Beobachterzuschreibung hinsichtlich der Interaktion natürlicher
Intelligenzen. Dynamisches Gruppierungsverhalten, Agieren und Reagieren,
sowie die daraufhin adaptierte Präsentation von multimedialen Daten sind
Anforderungen, die aus dem Anwendungsprofil traditioneller Leitsysteme
herausfallen.«

In einem etwa 18-monatigen Arbeitsprozeß werden die Vorstellungen von FHG
und ZKM einander angeglichen, während parallel dazu ein zweiter Auftrag an
das Museum ergeht, die "Präsentation multimedialer Daten" auch inhaltlich
vorzubereiten.

Mit einer Gruppe internationaler Autoren[18] und dem irischen Videokünstler
Lillevän Pobjoy[19] als Berater entwickeln Arndt und Brettschneider[20]
Ansätze, wie die Vorstellungen der wissenschaftlichen und industriellen
Förderer der Expo in Bilder umgesetzt werden können (Vorstellungen
übrigens, die jene weniger mit Themen als mit der Abfassung bezahlter
"Partnerverträge" verbinden). Storyboard ist das Traumawort, mit dem die
stellenweise restlose Pulverisierung von Inhalt euphemisch verbrämt wird.
Die Wahl des geeigneten Filmproduzenten spielt eine vergleichbare Rolle.

Nach vielen Umwegen fällt die Wahl schließlich auf die Berliner Firma
Statix(X)[21] unter dem Dach des ZKM, das zudem für die "Generierung von
künstlerischem raw material"[22] zuständig ist, während Expo Videos der
Partner beibringt. Diese werden in einem "finalen cut" für ihre dynamische
Verteilung auf 72 Spuren vorbereitet[23].


Wissen

Wenn man Buckminster Fuller Glauben schenkt, legt die Arbeit der Großen
Piraten[24], der gesetzlosen Freibeuter der Meere, die Wurzel zur
Spezialisierung in einer frühkapitalistischen Welt. Das Kapern und Aneignen
fremden Besitzes geht Hand in Hand mit der Akkumulierung von Wissen.
Speichern und Verfügbarmachen von Wissen gilt den Piraten als
überlebensnotwendig.

Als erste Berufsgruppe mit weltweitem Wirkungsfeld sind die seefahrenden
Unternehmer ein schönes Modell für die enterfreudige Kultur der dot.com-
Piraten der sogenannten Wissensgesellschaft des 21. Jahrhunderts und
Schöpfer des sagenumwobenen "globalen Gehirns".

Die Karten ihrer kommunikationstechnologisch noch unendlich weiter
hochgerüsteten späten Nachfahren verzeichnen nicht mehr Seerouten, sondern
die Lage von Infopipelines, und die bewußt temporären Landnahmen der frühen
Neuzeit lassen sich mit E-Commerce und seinen mehr hardwareorientierten
Spielarten vergleichen, wo mit der verbalen Chuzpe der Conquista Firmen im
virtuellen Geschäft als "Architekten einer Internetwelt" auftreten, in der
sie Personen in Akteure verwandeln, Kabel verlegen, alle Energien täglich
an einen neuen gewinnträchtigen Standort umlenken, diesen leersaugen und
wieder verschwinden.[25]

Piraten verstehen außer von militärischer Strategie und Logistik jede Menge
von Ökonomie, Biologie, Geografie, Geschichte und sind "master in science"
in allen Fächern, die das Überleben in ständig bewegten, über und über mit
Überraschungen gefüllten Ozeanen sichern.


Strategie

Es heißt oft, die ZKM-Ausstellung zeige, wie man von der Natur lernen kann.
Natürlich ist Biologie, mit allen ihren Komposita wie Mikro- und
-technologie hochgradig interessant. Doch spannend wird solches Wissen erst
in seiner sozialen Ableitung, als Übersetzung in die Wissenschaft vom
menschlichen Zusammenleben.


Das Rhizom beispielsweise ist - wie der Schwarm - eine philosophische Idee,
keine Pflanze: ein Hyper-Organismus.[26]

Es steht für ein stabiles, erfolgreiches System unterirdischer, subcutaner
Verzweigungen, Produkt der unschlagbaren "Intelligenz der Natur".

Das knotige Wurzelwerk Rhizom zeigt bildhaft, was man immer noch heute von
der heute in bestimmten linken Theoriekreisen paradigmatisch gewordenen
vietnamesischen Guerilla lernen kann[27]: zusammenhalten, aber nicht
zusammenhängen; unabhängig sein, aber eine Gemeinschaft bilden.

Mit Schwarmgeneratoren erzeugte "ESM"[28] sind physische Hyperorganismen,
die helfen zu erklären, warum das Prinzip Guerilla erfolgreich in jeder Art
von Dschungel ist.

Eine Guerilla lebt ohne Zentrum, das man treffen kann, sie bewegt sich
soweit außerhalb der orthogonalen Pläne, der geistigen und physischen
Planquadrate jeder Art von Regime, sie läuft so derart quer zu den Alleen
der Demokratie, daß man in der Tat eine gewisse Natürlichkeit, ein wieder-
Natur-werden in ihr entdecken kann. Guerilla ist die Inkarnation des
Prinzips, nicht das Eine zu sein, sie ist eine Vielheit, Wildwuchs mit
Steuerung ohne Kontrolle.[29]


Die Wahl fiel auf den Schwarm, jedoch nicht um das Leben der Datendrohnen
in einer postdarwinistischen Elektrowelt zu karikieren. Der Schwarm steht
lediglich für eine plausible äußerliche Form, die unmittelbar klar macht,
wie die sozialen Bewegungen und ihr künftiges Leben, ihre Möglichkeiten im
Umgang mit den neuen Medien funktionieren werden: jenseits von
vordergründigen Browserfaschismus-Ängsten und noch weiter außerhalb der
verlogen affirmativen Ästhetik einer kollektiven Intelligenz des "Netzes",
das mit Hilfe unklar verschlungener, abflußähnlich gurgelnder, alltäglich
sich selbst fortspülender Neologismen den albernen Versuch unternimmt, den
Zusammenschluß von einem Telefonkabel und einen Bildschirm zur zweiten
Natur zu erklären.[30]


Labore

                      "Gegenseitige Hilfe wird selbst bei den niedersten
                      Tieren angetroffen, und wir müssen darauf gefasst
                      sein, eines tages von den Mikroskopikern Tatsachen
                      von unbewußter gegenseitiger Unterstützung selbst aus
                      dem leben der Mikroorganismen mitgeteilt zu
                      bekommen."[31]



Das Interesse an Selbstorganisation, Komplexität, Irreversibilität und
nonlinearen Strukturen schließt die kritische Untersuchung der möglichen
Dimensionen von kollektivem Handeln und der konkreten Bedingungen mit ein,
unter denen Menschen weiterhin einem ihrer vitalsten Bedürfnisse
nachkommen, dem nach konstruktivem Austausch.

Es ist daher nötig, genau nachzuschauen, was Wissenschaftler in ihren
Laboren treiben[32], weshalb sie Bakterien umbauen, um sie als Prozessor
arbeiten zu lassen; wofür exakt genommen frei flottierendes Genmaterial von
Prokaryoten[33], die den Darmausgang einer Termite besetzt  halten, ein
Lehrbespiel ist und was es mit unserem Übergang in die postbiologische Welt
der Mensch/Maschinen (der Cyber-Organismen) zu tun hat. Von diesem
Standpunkt aus betrachtet bekommen schließlich auch Laborratten mit einer
osmotischen Pumpe an der Stelle ihres Schwanzes, die ihnen über lange Zeit
kleine Dosen Psychopharmaka zuführt und nachhaltig[34] ihren Charakter
verändert, eine Bedeutung für den Alltag.[35]


Mit einer Struktur, die schon in früheren Arbeiten angelegt ist[36],
versuchen jetzt Arndt, Peter und Wünnenberg, mit dem vorliegenden Buch ein
neues Feld zu sondieren. Sie lassen Biologen, Chemiker, Architekten,
Philosophen, Mathematiker, Kulturwissenschaftler, Robotiker und
Kunstgeschichtler zu Wort kommen und stellen deren Essays Beiträgen von
Autoren gegenüber, in denen die relevanten Begriffe noch einmal aus dem
Blickwinkel subversiver Analyse überprüft werden oder sich einer
eingehenden Befragung hinsichtlicher ihrer gesellschaftlichen Implikationen
stellen müssen.

-----------------------
[1] Carl Einstein, Die Fabrikation der Fiktionen (MS von ca. 1930/31),
Hamburg 1973, S. 56

[2]  Die erste deutsche Weltausstellung auf dem Kronsberg südlich der
niedersächsischen Landeshauptstadt Hannover

[3] Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe, das damals noch die
"Technologie" im Namen führte

[4] schöne Zahl 150: lt. vieler Hirnforscher, Biologen und Anthropologen
die ideale Größe einer Gruppe; unsere Installation im 150. Jahr der
Weltausstellungen wurde aus ökonomischer Räson in zwei Schritten auf 72
Maschinen eingekürzt

[5] Harald Willenbroek in "Econy", Juni 1999

[6] Der Themenpark, Bd. 1, Hrsg. Martin Roth et al., Berlin 2000, S. 137

[7] Beobachter der Bediener von Maschinen, die den dritten namensgebenden
Begriff nicht ohne ironische Spitze heute durch "Medien" ersetzt haben

[8] als Teil des sogenannten Themenpark, einer von der Bundesregierung
basisfinanzierten inhaltlichen Ausstellung mit 11 Teilen, die zum größten
Teil in den nagelneuen, von Gerkan, Marg und Partner entworfenen Hallen der
Deutschen Messe AG auf dem internationalen Messegelände vis-a-vis des
Kronsberg untergebracht wurde

[9] KIC-APD (Knowledge, Information, Communication, Avant-Projet-
Definitive), interne Planungsmappe. Confino überbot übrigens noch das Wort
des Expo-Gutachters Peter Krieg, der Arndt einen "Objektkünstler mit Hang
zur Maschine" nannte, indem er den politischen Subtext hinter dessen
Einschätzung offenlegte: er sichtete tatsächlich faschistoide
Maschinenfixierung mit Neigung zu bayreuther Teutonik.

[10] "Der Sinn von BBM ist sein Scheitern", in: "BBM: das Modell einer
neuen Gesellschaftsordnung", Hannover 2000, S. 55-61

[11] hierbei hilft Béla Stetzer, zuständig für das Gesamtdesign der Halle,
der gemeinsam mit Martin Hoyer die 3-D Modelle der Objektschalen entwirft.
Hoyer entwickelt darauf basierend die Simulationen von Halle und Objekte
und supervist das Producing

[12] "cellgates", siehe auch: Institut für künstliche Intelligenz am
Massachusetts Institute of Technology (M.I.T., AI Lab), G. Homsy et al.,
http://www.ai.mit.edu/lab/abstracts/1998/

[13] zuvor Mitarbeiterin in der Mobile Robot Group von Rodney Brooks,
ebenfalls am M.I.T., AI Lab; jetzt: Robotics Laboratories at the University
of Southern California

[14] www-robotics.usc.edu/~barry

[15] Maja Mataric, Gutachten für das ZKM-Team Hannover, USC Robotics Labs,
Computer Science Department and Neuroscience Program

[16] "Totmannstellung"/"Sicherheitskern" (schaltet alles ab, sobald ein
Objekt in Bodenhöhe berührt wird); "Rechnerschrank" (wertvoller Stahlkasten
mit Messinggriffen, der einen Notaus-Schalter enthält); "Energiebilanz"
(sieht schlecht aus: etwas, womit die Szenografen sich werden abfinden
müssen)

[17] internes Angebot zur Steuerung/Softwareerstellung für KIC-Robots

[18] zu denen u.a. Eric Breitbart, Darius James, Claudia Basrwai, Mario
Mentrup, Oleg Jurijew zählten

[19]Pobjoy bildet mit Marc Weiser die Videoscratching-Gruppe
"RechenZentrum", und gehört zu den Initiatoren von Berliner Clubs wie "Im
Eimer", "Berlin/Tokyo" und "Maria am Ostbahnhof"

[20] den die Teamkoordinatorin Sauter in einer Nacht-und-Nebel Aktion im
Frühjahr 1999 aus dem Expo-Planungsgruppe der Ausstellung "Zukunft der
Arbeit" herausgekauft hatte

[21] der australische Computerkünstler LP Wallen mit Crew

[22] zu den Künstlern gehören u.a. Hendrik Dorgathen, Dani Sperling, Malte
Ludwig, Caspar Stracke, Judith Zaugg und Sally Gutierrez-Dewar

[23] hierzu und zu allen übrigen Aspekten der Ausstellung siehe
<http://www.bbm-ww.de>

[24] Buckminster Fuller, Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde, in:
ebd., Hrsg Joachim Krausse, Hamburg, 1973, S. 17 ff

[25] IT-Firmen lassen sich durchweg als solche "entfesselten Spekulanten"
charakterisieren. Zur weiterführenden Lektüre zum Thema "Geld als Leitstern
aller Navigatoren" sei Brian Massumi empfohlen, insbesondere sein der Visa-
Karten Werbung entliehenen Titel "Everywhere you want to be.", deutsch in:
C.C. Härle, Karten zu "Tausend Plateaus", Berlin 1993

[26] Felix Stalder (siehe im Textteil) wendet diesen Begriff auf die
internationalen Geldströme an. Im Umfeld von Biotechnologie und
militärischen Cyborgforschung fällt auf, daß jede noch so abwegige
Subwissenschaft in den vergangenen 40 Jahren ihren spezifischen Hyper-
Organismus kreiert hat. Hierzu gehört auch das Bonmot von den "Organen der
Technik", die von autoreproduktiven Siliziumrobotern geschaffen werden, von
"Schöpfungsmaschinen", wie K. Erik Drexler, der Moses der Nanotechnologie,
sie nennt.

[27]  nicht zu vergessen die groteske Fußnote, daß die militärische
Megamaschine der USA -am Ende ihrer strategischen Weisheit- ein
Entlaubungsmittel, das Pflanzengift Napalm, gegen den Feind unter dem
Blätterdach des Urwaldes einsetzte. Aus wenigen Metern Höhe betrachtet
zeigt jedes "autonome System", warum die Soldaten der vereinigten
kapitalistischen Systeme ratlos den Boden abhorchen mussten, um ihren Feind
zu orten, der sich in einem weitverzweigten Tunnelsystem dem Zugriff einer
oberflächenfixierten Armee erfolgreich entziehen konnte.

[28]  Vollständig e.s.m.-bodies: Fahrzeuge mit kombinierter Elektronik
Sensorik Mechanik; Klassifikation in "Themenpark Wissen", Arndt/Stetzer,
Mai 1998, internes Dokument

[29] siehe zur Terminologie des letzten Abschnittes auch: Deleuze/Guattari,
Rhizom, Berlin 1977

[30] Daß die Idee, Einblicke in die Strategie des "autonomen" Schwarms zu
gewähren, unter den real existierenden Bedingungen einer ersten deutschen
Weltausstellung auf dem Boden der wiedervereinigten Produktionskräfte
allerdings nach der Methode Stalingrad realisiert wird ("Deutsche
Ingenieure schaffen das!"), ist zwar amüsant, irritiert aber auch nicht
weiter, ist es doch voraussehbar gewesen und nur ein weiterer Beweis, daß
Technologie stets Herrschaftsfunktion ausübt. Sie hat eben per se keine
widerständigen Potentiale.

[31] Peter Kropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt,
Leipzig 1923

[32] Das ist heute die wichtigste Aufgabe, die der Künstler wahrnehmen
kann, denn im übrigen ist er - wahrscheinlich unausweichlich - Stipendiat
der Kommunikationsindustrie. Sein Ziel kann deswegen nicht in
Ästhetisierung (des Politischen) bestehen, sondern in Politisierung (seiner
ästhetischen Herangehensweise an einen Stoff, ob das nun der Mensch selbst
oder seine Wissenschaften sind).

[33] Im erwähnten Fall Mixotricha Paradoxa

[34] übrigens ein projektgeschichtlich interessantes Wort: mit dem
Versprechen der "sustainability", der Einlösung der Grundsätze der Agenda
21, hat Hannover den Zuschlag als Ausrichter der Expo erhalten

[35]  Siehe hierzu Donna Haraway, Vorwort zu: Cyborg Handbook, New York
1995, worin die erwähnte Termitenuntersuchung von Lynn Margulis (siehe
unser Textteil) und die Osmo-Maus der Weltraumforscher Clynes/Kline eine
Rolle spielen.

[36]  "camera silens", Über sensorische Deprivation und soziale Isolation,
Rob Moonen/Olaf Arndt, Hamburg 1994; "Buna 4", Über die industrielle
Verwertung von Arbeitskraft, Moonen/Arndt, Hannover 1995

Links:

BBM ("Beobachter der Bediener von Maschinen", vorübergehend auch "... von
Medien") Hier finden sich auch Details zur Produktionsweise
(Kooperationspartner, Choreografie, Interaktion, Werkzeuge, Steuerung,
Licht, Sound, Filme ...) mit zahlreichen Abbildungen:
http://www.bbm-ww.de/

komplettes Inhaltsverzeichnis der "Hyperorganismen" und andere
Veröffentlichungen von BBM:
http://www.bbm-ww.de/book/buch.html

Rob Moonen, Artist, The Netherlands
http://www.bosweb.nl/rm/

Expo-Themenpark:
http://www.expo2000.de/deutsch/themenpark/

Planets of Vision
http://www.planetofvisions.com/

robot source code, tracking system (Robotics Lab, Univ. South California)
http://www-robotics.usc.edu/~barry

cellgates, genetische Programmierung (M.I.T. AI Lab)
http://www.ai.mit.edu/lab/abstracts/1998/

Das Manifest der Digitalkunsthandwerker (Richard Barbrook, Pit Schulz)
http://www.ljudmila.org/nettime/zkp4/72.htm

Ricardo Dominguez (USA, Künstler):
Postmediale Wüsten (oder Revolte der Übriggebliebenen)
http://www.ctheory.com/event/e081.html

Hans Moravec (USA, Robotiker), Flecken und Spiegelungen
http://www.frc.ri.cmu.edu/~hpm/project.archive/robot.papers/2000/puddle.html

Felix Stalder (Canada, Philosoph), Datenströme und Knoten
http://www.fis.utoronto.ca/~stalder/
vgl. auch Beiträge in Telepolis

Bruce Sterlings Liste "toter Medien"
http://www.well.com/user/jonl/deadmedia/

"Hyperorganismen" im kollaborativen Science/Fiction "Odyseen des Netzraumes":
http://www.gvoon.de/cgi-bin/lit_/waechst_/hypertextree.pl?area=story&which=Q_972
081528



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