Andreas Broeckmann on 11 Jan 2001 09:48:06 -0000 |
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[rohrpost] Schweifende Blicke: Ueber Oliver Whiteheads Video mind's eye |
[dieser text entstand fuer der katalog des internationalen medienkunstpreises 2000, in dessen video-kategorie die arbeit von Whitehead sich mit Jonathan Hodgsons Feeling My Way den ersten preis geteilt hat; mind's eye wird am montag, 5.2. im rahmen des screening programms 'Surviving in a Digital World' (17-19 h) auf der transmediale.01 in berlin zu sehen sein; abroeck] Schweifende Blicke Ueber Oliver Whiteheads Video mind's eye Andreas Broeckmann 1. Blick aus dem Zugfenster Sie fahren mit dem Zug durch eine beliebige Vorstadt. Abstellgleise, Rangierterrains, Boeschungen und Oberleitungen, die mit Daemmen, Straeuchern und Baeumen vor den Blicken der Stadtbewohner abgeschirmt sind, bieten sich dem Reisenden in nackter Gleichgueltigkeit dar. Zweifellos sind diese Strecken ohne jeden Sinn fuer AEsthetik gebaut. Sie sind einer strengeren Oekonomie unterworfen, die nicht den geringsten Versuch macht, mehr darzustellen als ihre Funktion: es sind technische Anlagen fuer den Transport von Guetern und Personen, die durch die industriellen Hinterhoefe der Staedte fuehren. Lange Zeit haben sich menschliche Siedlungen den Verkehrswegen, die zu ihnen fuehrten, zugewandt. Befestigte Kreuzungen, Furten und Flußmuendungen wurden zu den zentralen Orten staedtischer Zivilisation. Stolz kehrten sich die Haeuserfassaden mit ihren Arkaden, Schmuckgiebeln und Fenstern den Verkehrsadern zu. Gleichermaßen wurden Landstraßen in Hinsicht auf die Erfahrung der Landschaft gebaut. Der Sinn fuer die Aesthetik der Landschaft beim Reisens kulminierte in der Mitte des 20. Jahrhunderts in der Anlage von Autobahnen und Passstraßen als Panoramastrecken. Im Eisenbahnbau dagegen ueberwiegt die Oekonomie der Distanzueberwindung gegenueber der AEsthetik des touristischen Blicks. Die Einfahrt in groeßere Staedte mit dem Zug zeigt weder ihre Wahrzeichen, noch will sie einen attraktiven ersten Eindruck vermitteln. Mit den Hochgeschwindigkeitszuegen schließlich naehert sich die aesthetische Erfahrung des Zugfahrens zunehmend derjenigen des Fliegens - sie wird zum Tunnelblick, bei dem die Außenwelt durch visuelle Redundanz, Geschwindigkeit und Sicht- und Schallschleusen bis zur Unkenntlichkeit verzerrt wird. Den Blick des Reisenden lenkt man dann mit Videomonitoren in den Ruecklehnen der Sitze ab. 2. Minimale Aufmerksamkeit Oliver Whiteheads Videoarbeit mind's eye (1999) zeigt den Blick aus einem Zug. Eine blasse und identitaetslose Vorortlandschaft zieht vorbei. Bei einer Geschwindigkeit von vielleicht 50 km/h lassen sich einzelne Gegenstaende einen Moment lang fixieren und verfolgen, dann verschwinden sie am Rande des Blickfeldes. Das Video zeigt in Einzelschnitten eine lange Folge solcher Blicke; in Fahrtrichtung vorausschauend, findet die Kamera ein Objekt, schwenkt gegen die Fahrtrichtung, um es so lange wie moeglich zu fixieren, und verliert es dann am rueckwaertigen Rand des Fensterrahmens. Die Kamera sucht die Graffiti, die von Jugendlichen auf Hauswaende, Brueckenpfeiler, Unterfuehrungen, Wartehaeuschen und Verkehrsschilder gesprueht worden sind. Ab und an bleibt der Blick an Menschen haften, die entlang der Bahnstrecke laufen, Spaziergaenger, die ihre Hunde ausfuehren, Leute, die von der Arbeit, vom Einkaufen, vielleicht von der naechsten Bahnhaltestelle kommen. Ein drittes wiederkehrendes Motiv sind Antennen und Satellitenschuesseln, vor allem auf Privathaeusern. Auch sie werden vom Zug aus nur kurz fixiert und verschwinden mit derselben Unausweichlichkeit aus dem Blickfeld. Vor allem aber sehen wir Graffitis, Spruehzeichnungen zwischen Text und Bild, fuer deren Entzifferung keine Zeit bleibt. Sie sind sowieso meist unlesbar, gelegentlich erkennt man raetselhafte Buchstabenkombinationen, Namen vielleicht oder eigenwillige Akronyme. Anfang und Ende des Bandes scheinen arbitraer gewaehlt; nach einigen Eroeffnungsschnitten mit vorbeifliegenden Felsabbruechen beginnt die Folge der eiligen Schwenks. Ohne offensichtliche Dramaturgie oder Logik, allerdings mit einem feinen Sinn fuer den Rhythmus und die Dynamik der Sequenzen, bricht das Band nach etwa 8 Minuten ab. Dieser Moment ist vom Ende der Tonspur bestimmt, die die Bilder begleitet: die kuenstliche Stimme eines Text-zu-Sprache-Computerprogramms traegt Auszuege aus einem englischsprachigen Thesaurus vor, und zwar zum Wortfeld Kreativitaet ("Formation of ideas, imagination, inspiration, originality, fantasy, ..."). Intentions- und emotionslos verdoppelt dieser gesprochene Text, dem uebrigens auch der Titel mind's eye entnommen ist, den gleichgueltigen Rhythmus der Bilder und reflektiert zugleich auf die idiosynkratischen Ausdrucksformen, in denen sich die Graffiti verdichten. 3. Die Haut der Stadt Graffiti gehoeren zu den auffaelligsten Elementen im Bild der post-industriellen Stadt. Mitte der 70er Jahre beschreibt Jean Baudrillard in einem Aufsatz das damals junge Phaenomen als strategische Intervention in die urbane Struktur ("Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen", 1975) und liefert interessante Hinweise fuer die Interpretation der Videoarbeit von Oliver Whitehead. Die Stadt ist, so Baudrillard, nicht laenger bestimmt von einer Zeichenmatrix der Arbeit und des Handels. Stattdessen ist sie fast ausschließlich codiert mit den Zeichen des Konsums, die vornehmlich von den Bild- und Textmaschinen der Medien produziert werden, die aber auch in die Architektur und urbanistischen Anlagen der Staedte eingeschrieben sind. Anders als die politischen und poetischen Wandlosungen der 50er und 60er Jahre setzen Graffiti hiergegen nicht die Passion des ausdruecklichen Widerstands, sondern leere Signifikanten, die sich der Lesbarkeit und Deutbarkeit bewusst entziehen. Es geht um die Einschreibung in eine bedeutungsneutrale, suburbane Landschaft und um die Besetzung nicht-signifikanter Oberflaechen der Stadt mit Zeichen, die den decodierten urbanen Raum als kollektives Territorium bestimmen (Baudrillard). Wo normalerweise eine vollstaendige Neutralisierung des Sichtbaren stattfindet - eben an jenen Rueckseiten der Stadt, durch die die Strecken der Vorortzuege geschnitten sind -, wird der Stadt ein Koerper gegeben und ihre neutrale Flaechen zu erogenisierten Zonen umgewandelt. Die Graffiti in Oliver Whiteheads Video sind fuer diejenigen Leute gemacht, die im Zug vorbeifahren, die also den oeffentlichen Nahverkehr nutzen statt des automobilen Individualverkehrs. Mit dieser Kollektivitaet des Fahrens ist unmittelbar die Kollektivitaet der Zeichenwahrnehmung verbunden. "Indem sie die Waende taetowieren, befreien SUPERSEX und SUPERCOOL sie von der Architektur und machen sie wieder zu einer lebendigen, immer noch sozialen Materie, zum beweglichen Koerper der Stadt vor seiner funktionalen und institutionellen Markierung." (Baudrillard) 4. Wovon auch Baudrillard 1975 noch nichts wußte Whitehead weicht vom Prinzip semiotischer Redundanz nur an einer Stelle ab. In der Mitte des Bandes sind mehrere Graffiti zu sehen, die deutlich als "Virus" und "HIV" zu lesen sind. Kaum ein Zufall, ist diese kurze Serie jedoch nicht eindeutig zu interpretieren. Hinweis auf ein schwarzes Loch in der Haut der Stadt? HIV als ein irreduzibles Zeichen, das sich gegen das postmoderne Treiben der Bedeutungen straeubt? Assoziation des Graffiti-Spruehens mit einer viralen Taetigkeit, die im Sinne von Burroughs "language is a virus" in den Koerper der Stadt eindringt und sein Immunsystem schwaecht? 5. 'Derive' des Auges Das Gegenbild zu den a-signifikanten Graffiti sind im Video die Antennen und Satellitenschuesseln, die den koerperlosen und individualisierten Empfang medialisierter Konsumbotschaften ermoeglichen. Zwischen beiden Zeichensystemen, zwischen Graffiti und Antennen, entspinnt sich das Gewirr der Wege, auf denen Menschen allein und gemeinsam durch die Stadt streifen, zu Fuß und in Zuegen. Diese Semiotik der Stadt ist bestimmt von unsichtbaren Zeichnern, schattenhaften Medienkonsumenten und anonymen Pendlern. Auffaelligerweise ist die Stadt in mind's eye eine Stadt ohne Autos, eine Stadt der Fußgaenger und Bahnfahrer. Sie erinnert an die utopische Stadt des Situationismus, deren Psychogeografie mit Hilfe von nicht-funktionalen, nicht-signifikanten Markierungen im Umherschweifen erfahren und kartografiert wird. Das 'Derive' (Umherschweifen) von Whiteheads Kamera ist freilich nicht dem Zufall oder der Intuition des situationistischen Urbanisten ueberlassen, sondern ist der unausweichlichen Bewegung des Zuges unterworfen. So ist die Oekonomie von Raum und Begehren hier auch weit weniger romantisch bestimmt als die der Situationisten, sondern sie weiß sich in direkter Abhaengigkeit von der technischen Logik der Fortbewegung. 6. Schule des unaufmerksamen Blicks Am Anfang seines Buches zur Landschaftswahrnehmung im Frankreich des 19. Jahrhunderts, The Spectacle of Nature (1990), beschreibt der englische Kulturwissenschaftler Nicholas Green den Blick aus dem Fenster eines Zuges und nimmt dies als Ausgangssituation fuer eine Reflexion ueber die Konstruiertheit des modernen Naturbildes. Im gleichen Duktus laeßt sich an mind's eye ueber den puren Realismus der Darstellung hinaus ablesen, wie die Darstellung und ihre Technologien zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit beitragen; hier also: wie die Videoarbeit ein Bild der "urbanen Bedingung" entwirft, die das ziellose Durchkreuzen der Vorstaedte im Zug mit dem schweifenden Blick verbindet, der die neue Semiotik der Stadt "scannt", oder einliest, und mit einem ironischen, maschinisierten Vortrag ueber kreatives Handeln konterkariert. Das grobkoernige Videobild und die verfremdete Stimme des Computers schaffen dabei eine Distanz zum Dargestellten, als betrachte man aus der Perspektive einer außerirdischen Maschine die Archaeologie der menschlichen Kreativitaet am Ende des 20. Jahrhunderts. Was aussieht wie die Aneinanderreihung leerer Blicke in ein sinnlos voruebertreibendes Wirklichkeitskino - wir sind unweigerlich erinnert an den Klassiker des Ambient TV, die Reihe "Deutschlands schoenste Bahnstrecken", in der eine festinstallierte Kamera an der Lokomotive eines Zuges ueber Stunden den Blick in die vorbeiziehende Landschaft zeigt -, ist die sehr bewußte Inszenierung einer Wahrnehmung, die den Blick fuer die Zeichen einer unauffaelligen Urbanitaet im Takt ihres Auftauchens und Verschwindens schult. Fuer Nick Green, einen weiteren Pendler. (Berlin, August 2000) _______________________________________ andreas broeckmann - artistic director - transmediale - international media art festival berlin klosterstr. 68-70 - d-10179 berlin tel. +49-30-24721907 - fax +49-30-24721909 ab@transmediale.de - www.transmediale.de --------------------------------------- transmediale.01 - DIY [do it yourself!] - 4-11 feb 2001 ---www.v2.nl/syndicate-------www.mikro.org--- ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost