Inke Arns on 23 Jun 2001 09:46:05 -0000 |
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[rohrpost] Chlebnikov: Lebedija der Zukunft (1915) |
[Neben seinem Text "Radio der Zukunft" von 1921 (hat den jemand digital vorliegen?) ist dieser Text von Chlebnikov aus dem Jahr 1915 wohl einer der interessantesten / seltsamsten / visionärsten. Gruss, IA] ---------------------------------------------- Velimir Chlebnikov (1885-1922) Lebedija der Zukunft (1915) Himmelsbücher Auf den Plätzen in der Nähe der Gärten, in denen die Arbeiter oder, wie sie sich nannten, Schaffenden der Ruhe pflegten, ragten hohe, weisse Mauern empor, die an grosse, am schwarzen Himmel aufgeschlagene Bücher erinnerten. Davor standen, dicht gedrängt, die Scharen des Volkes, während die Gemeinschaft der Schaffenden in Schattenschrift die neuesten Nachrichten in die Schattenbücher druckte, indem sie mit dem leuchtenden Auge einer Laterne Schattenbuchstaben an die Wände warf. Neuigkeiten vom Erdball, das Geschehen in den Vereinigten Staaten von Asien, diesem mächtigen Bund aus Schaffensgemeinschaften, Gedichte, die plötzliche Eingebung eines Mitglieds, wissenschaftliche Neuigkeiten, Nachrichten von lieben Anverwandten, Verordnungen der Ratsversammlung. So mancher zog sich, beflügelt von den Aufschriften an den Schattenwänden, für eine Weile zurück, um seine Eingebungen zu notieren, worauf diese eine halbe Stunde später, durch ein Lichtglas geworfen, in Schattenworten an einer der Wände aufleuchteten. Bei trübem Wetter benützte man die Wolken zum Abdruck der neuesten Nachrichten. Einige baten, sterbend, man möge die Nachricht von ihrem Tod in die Wolken schreiben. An Festtagen wurde ein ‘Malen mit Gewehrsalven’ veranstaltet. Geschosse mit verschiedenfarbigem Rauch wurden an verschiedene Punkte des Himmels abgefeuert. Etwa, die Augen – ein Blitz aus blauem Rauch, die Lippen – ein Schuss aus blutrotem Rauch, die Haare – Silbernebel. Ein plötzlich am wolkenlosen Blau des Himmels erscheinendes, vertrautes Gesicht brachte die Ehrerbietung der Bevölkerung für ihren Führer zum Ausdruck. Ackerbau. Der Pflüger in den Wolken Im Frühling konnte man beobachten, wie zwei Wolkengänger wie Fliegen die verträumten Wangen einer Wolke entlangkrochen und, eine Egge hinter sich herziehend, eifrig die Felder pflügten. Von Zeit zu Zeit waren die Wolkengänger verschwunden; wenn eine Wolke sie den Blicken entzog, schien es, als würde die eifrige Wolke, wie Ochsen in ein Joch gespannt, die Egge hinter sich herziehen. Später kamen, hinter Wolken verborgen, majestätische Gießkannen geflogen, wie Himmelsflieger, um das gepflügte Land mit künstlichem Regen zu besprengen und ganze Ströme von Samen über das Land auszugiessen. Der Pflüger war in die Wolken umgezogen und konnte von dort mehrere Felder, den ganzen Boden seiner Sippschaft, auf einmal bestellen. Ein einzelner Pflüger, hinter Frühlingswolken verborgen, konnte die Felder mehrere Familien bebaun. Verbindungswege. Funkbriefe An einigen Stellen verbanden Unterwasserwege mit gläsernen Wänden die beiden Ufer der Volga. Die Steppe bekam noch mehr Ähnlichkeit mit einem Meer. Im Sommer zogen Schiffe am Trockenen, mittels Wind und einem Segel, auf Rädern über die endlose Steppe. Donnerwägen, Schlittschuhe und Segelschlitten verbanden sie Dörfer untereinander. Jede Jägersiedlung hatte sich mit einem Feld zum Start von Luftkähnen sowie einem eigenen Aufnahmegerät für Strahlengespräche mit dem Erdball ausgerüstet. Die empfangenen Funkstimmen vom anderen Ende der Welt waren augenblicklich im Druck auf den Schattenbüchern zu lesen. Heilung durch Augen Die Frühlingsaussaat durch die Wolken, die Schattenbücher, die den Planeten zu einer wissenschaftlichen Gemeinschaft verbanden, die Segel der Schiffe am Trockenen, die die Steppe wie ein Meer durchzogen, die Mauern der Plätze, jene großen Lehrer der Jugend, hatten das Aussehen Lebedijas binnen zwei Jahren merklich verändert. In Schattenlesesälen lasen Kinder gleichzeitig in ein und demselben Buch, das Seite für Seite vor ihnen, von einem Mann hinter ihnen, umgeblättert wurde ... Pflanzen, Vögel und Schildkröten erhielten das Recht, auf einem umzäunten Stück Land zu leben, zu sterben und zu wachsen. Es wurde zur Regel erhoben, dass kein einziges Tier abhanden kommen dürfe. Berühmte Ärzte hatten entdeckt, dass die Augen lebendiger Tiere besondere Strahlen mit heilender Wirkung für seelisch erschütterte Menschen aussandten. Zur Seelenheilung verschrieben die Ärzte das blosse Betrachten von Tieraugen, waren es nun die sanften, untertänigen Augen der Kröte, der starre Blick der Schlange oder der mutige des Löwen – und maßen dem ebensolche Bedeutung bei, wie sie ein Stimmer für verstimmte Saiten hat. Die Heilung durch Blicke wurde ebenso verbreitet wie heutzutage die Heilung durch ein bestimmtes Wasser. Das Dorf verwandelte sich in eine wissenschaftliche, von einem Wolkenpflüger gelenkte Zadruga. Mit festem Schritt näherte sich der geflügelte Schaffende nicht nur der Gemeinschaft aller Menschen überhaupt, sondern der Gemeinschaft aller Lebewesen des Erdballs. Und an seiner Tür vernahm er das Klopfen einer winzigen Affenfaust. (Übersetzung: Rosemarie Ziegler) (*Lebedija* – im Altertum Name des gesamten Steppenlandes zwischen Don und Wolga. *Zadruga* – Genossenschaft, Verband. Ein slawisches Wort, im Serbischen z.B. bis heute geläufig, im Russischen verloren) [Chlebnikov, Velimir: Lebedija [1915/1928]. In: Ders.: Werke. Poesie Prosa Schriften Briefe. Hrsg. v. Peter Urban. Reinbek 1985, S. 243-245] - http://www.v2.nl/~arns/ ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de