Tilman Baumgaertel on Thu, 28 Nov 2002 15:55:32 +0100 (CET)


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http://www.zeit.de/2002/49/Netzkunst

Netzkunst

Absturzkünstler

Nach dem Ende der Dotcom-Ära steckt auch die Internet-Kunst tief in der Krise

Von Tilman Baumgärtel






© Foto: www.potatoland.org/shredder/
Heath Bunting überschreitet Grenzen, und das im wörtlichen Sinne. Seit
einem Jahr passiert der britische Künstler die innereuropäischen Grenzen
ohne Genehmigung und ohne Papiere. Über unwegsame Bergpässe und durch
menschenleere Wälder hat Bunting bereits die grüne Grenze von der
Tschechischen Republik nach Deutschland oder von Spanien nach Frankreich
überschritten. Als Nächstes will er durch den TGV- Tunnel von England nach
Frankreich wandern. Für den Künstler ist die Aktion Border Xing ein
Ausdruck des Protestes gegen das rigide Grenzreglement in Europa, das nach
dem Schengener Abkommen Nichteuropäern die ungehinderte Reise innerhalb der
EU erschwert.

Seine Grenzgänge dokumentiert der Künstler mit Karten, Fotos und
Tagebucheintragungen, die er im Internet veröffentlicht. Allerdings kann
nicht jeder Websurfer auf diese Seiten zugreifen. Wer sehen will, wo und
wie Bunting illegal über die Grenze von einem europäischen Land in ein
anderes gelangt, muss sich selbst in Bewegung setzten. Auf seiner Website
hat er öffentlich zugängliche Computer in Internet-Cafés, Museen und
Medienlaboren aufgelistet, über die man seine Arbeit betrachten kann. Nur
dort, sonst nirgends.

Ein Künstler, der seit 1994 mit dem Internet arbeitet, gibt so plötzlich
einen der zentralen Vorteile dieses Mediums auf: dass die Arbeiten, die er
online produziert hat, jederzeit und überall von jedem vernetzten Computer
aus zugänglich sind. Natürlich, Bunting will sich vor rechtlichen Problemen
wegen seiner unerlaubten Grenzübertritte schützen. Aber seine neue Arbeit
ist auch Zeichen einer Desillusionierung: Er ist enttäuscht von den
Möglichkeiten, die das Internet bildenden Künstlern bietet. Und er ist
nicht der Einzige, der dem Netz als künstlerischem Medium inzwischen
skeptisch gegenübersteht. Auch um andere Künstler, die zusammen mit ihm
ihre Karriere im Internet gestartet haben, ist es still geworden.

Dabei ist es noch nicht lange her, dass das Internet als einer der
interessantesten Spielplätze der zeitgenössischen Kunst galt. Mitte der
neunziger Jahre, als das Netz zum ersten Mal für Benutzer außerhalb von
Militär und Universitäten zugänglich wurde, löste es eine Explosion der
Kreativität aus: Das neue Medium wurde von Künstlern mit Begeisterung
angenommen. Von 1994 an entstanden erste Arbeiten, die die spezifischen
Eigenschaften des Internet ausloteten. Das belgisch-holländische Duo Jodi
schuf chaotisch-abstrakte Webpages, die bei vielen Benutzern große Angst
vor Computercrashs auslösten. Ihre Website www.jodi.org, die wie der
Albtraum eines professionellen Internet-Gestalters aussieht, nutzt
gefundene Bilder und Codes aus dem Internet als Rohmaterial für flackernde,
über den Bildschirm springende digitale Collagen. Der New Yorker Mark
Napier entwickelte einen Shredder, der beliebige Websites zu Datenschrott
verarbeitete: Bildchen und Text werden in einen wüsten Wirrwarr zerlegt.
Und der amerikanische Künstler Ken Goldberg legte einen Garten an, in dem
man über das Internet Blumen pflanzen und gießen konnte: Tausende von
Internet-Usern haben seither zum Blühen und Gedeihen des Tele- Garden
beigetragen.

Das Genre Netzkunst, das nie ein Genre sein wollte, umfasste auch Arbeiten,
die mehr mit den Happenings und der Aktionskunst der sechziger und
siebziger Jahre zu tun hatten. Der Schweizer Künstlergruppe etoy gelang es
bei ihrer Aktion Digital Highjack, die Benutzer von Suchmaschinen auf ihre
Website zu entführen. Wer bei populären Suchmaschinen nach Worten wie
„Madonna“ oder „Mercedes“ suchte und auf einen von den Künstlern
eingeschmuggelten Link klickte, fand sich plötzlich bei www.highjack.org
wieder, wo der verdutzte Surfer mit „Don’t fucking move! This is a digital
highjack!“ begrüßt wurde und seine liebe Not hatte, wieder von der Seite
herunterzukommen. Als der amerikanische Spielzeugversand Etoys die
Künstlergruppe wegen angeblicher Namensrechtsverletzung verklagte,
mobilisierte sie ihre Internet-Fans, die das Unternehmen mit E-Mails so
lange unter Druck setzten, bis die Aktienkurse der Firma zu sinken begannen.

Ein Label für die vielfältigen künstlerischen Umtriebe im Netz war schnell
gefunden: net.art – das sollte wie ein Dateiname klingen, nicht wie eine
neue Kunstrichtung. Denn das Internet machte für seine künstlerischen User
einen lange gehegten Traum vieler Künstler des 20. Jahrhunderts wahr. Es
erlaubte ihnen Unabhängigkeit vom verhassten Kunstbetrieb, von den Museen
und Galerien, von den Kunstvermittlern, die sich zwischen ihre Arbeit und
das Publikum drängen. Wie viele modernistische Künstler seit Marcel Duchamp
reizte es die Netzkünstler, ein Verwirrspiel zwischen den Polen Kunst und
Nichtkunst zu veranstalten. „Kunst findet immer an einem physischen Ort
statt“, sagte der russische Künstler Alexej Schulgin 1997, „beim Netz ist
der physischen Raum nicht wichtig. Alles passiert nur auf dem
Computermonitor, und es ist egal, von wo die Daten kommen. Darum sind die
Leute verwirrt, weil sie nicht wissen, was sie von den Daten halten sollen,
die sie bekommen. Ist das nun Kunst oder nicht? Sie wollen wissen, in
welchem Kontext die Arbeit steht, weil sie ihren eigenen Augen nicht trauen.“

Verloren in den Weiten des Netzes

Doch während in der Szene Ende der neunziger Jahre fast wöchentlich E-Mails
mit den Internet-Adressen neuer, interessanter Projekte kursierten, haben
die künstlerischen Online-Aktivitäten in der letzten Zeit spürbar
nachgelassen. Fast wirkt es so, als würden die Eigenschaften, die das
Internet für Künstler interessant gemacht haben, nun gegen sie arbeiten: Im
täglich unübersichtlicher werdenden Netz sind die Kunstprojekte in den
Datenmassen schlicht untergegangen.

Als das World Wide Web noch aus einigen hundert Websites bestand, waren die
ersten Online-Werke von Künstlern eine besondere Sehenswürdigkeit. In den
frühen Tagen des Internet lieferten Websites mit Namen wie What is hot?
oder Cool Site of the Day Orientierung im ständig expandierenden Netz. Sie
machten die Surfer nicht nur auf besonders neurotische, private Homepages
aufmerksam oder auf Webcams, die Bilder von Aquarien verbreiteten – sie
konfrontierten die Internet-Freunde oft auch spontan mit moderner Kunst. So
erfüllten sie nebenher auch einen Traum der Moderne: nämlich den Kontakt
zwischen Kunst und ihrem Publikum unter Umgehung von vermittelnden
Instanzen herzustellen.

Im einem Netz, das ins Unermessliche gewachsen ist, fehlen heute die
Instanzen, die interessierte Surfer zu Kunst-Websites führen. Und während
in den USA Kunstinstitutionen wie das Whitney Museum, das San Francisco
Museum of Modern Art oder das New Yorker New Museum mittlerweile erste
Präsentationen von Internet- und Software-Arbeiten ausgerichtet haben, hat
sich nach der großen Ausstellung net_condition am Karlsruher Zentrum für
Kunst und Medientechnologie kein anderes Kunstmuseum in Deutschland an
Netzkunst gewagt. Bei der documenta 1997 hatte Kuratorin Catherine David
einen eigenen Raum mit Netzkunst eingerichtet. Bei der diesjährigen
Documenta waren dagegen nur zwei Arbeiten zu sehen, die sich mit dem
Internet befassten, obwohl das Netz zu den zentralen Motoren der
wirtschaftlichen und politischen Globalisierung gehört, mit der sich die
Documenta beschäftigen wollte.

Dass die Kunstszene kaum auf Netz- und Computerkunst setzt, mag zum Teil an
einer technophoben Grundhaltung des Kunst-Establishments liegen, die auch
die Videokunst über zwanzig Jahre in eine Außenseiterposition gezwungen
hat, bevor Video in den neunziger Jahren seinen Siegeszug antreten konnte.
Es mag auch an den nicht unbeträchtlichen Problemen liegen, mit denen man
konfrontiert ist, wenn man Netzkunst im physischen Raum zeigen will. Saskia
Bos, die Kuratorin der BerlinBiennale 2001, gab zum Beispiel in einem
Interview zu Protokoll: „Es gibt bei der Biennale keine dieser
komplizierten Internetprojekte – es macht einfach keinen Sinn, mit einer
Maus in der Hand im Raum herumzustehen oder in einer Schlange vor dem
Bildschirm zu warten.“ Solche Argumente könnte man freilich auch gegen
viele Performances, Installationen und Aktionen ins Feld führen, die
ebenfalls nicht den Anforderungen einer traditionellen Kunstpräsentation
entsprechen. Indem sie die Netzkunst ignorieren, verstellen sich die Museen
und Ausstellungen allerdings die Chance, Arbeiten zu zeigen, die sich mit
der zunehmenden Computerisierung und Vernetzung unserer Gesellschaft aus
der Binnenperspektive beschäftigen.

Was nichts kostet, ist nichts wert

So sind die Künstler, die mit dem Internet arbeiten, als
Präsentationsplattform auf Festivals für Medienkunst wie die Transmediale
in Berlin oder die Ars Electronica in Linz angewiesen. Diese Präsentationen
ziehen zum Teil zwar durchaus ein großes Publikum an. Doch das
„Medienfestival-Ghetto“, wie es viele Insider nennen, beschränkt die
Auseinandersetzung mit Internet-Kunst oft auf ein zirkelhaftes Fachpublikum.

Der Crash des Internet-Marktes seit 1999 dürfte seinen Teil zum derzeit
fehlenden Interesse an Netzkunst beigetragen haben: Obwohl die
Internet-Künstler den Auswüchsen der New Economy kritisch bis ablehnend
gegenüberstanden, werden sie nun zu Opfern des Backlashs gegen das Internet
in den letzten drei Jahren. Zudem hat sich der Kunstmarkt nie besonders für
die Netzkunst erwärmen können: Weil noch niemand ein funktionierendes
Geschäftsmodell für den Handel mit der immateriellen Internet-Kunst
gefunden hat, haben die kommerziellen Galerien gegenüber der digitalen
Kunst immer eine vornehme Zurückhaltung bewahrt.

Gerade jene genuinen Eigenschaften des Internet, die einst viele Kreative
anlockten, werden der Netzkunst nun zum Verhängnis. Die Künstler verfügen
mit dem Internet zwar über ein ideales Instrument zur Distribution ihrer
Arbeit. Doch diese autonome Infrastruktur fern der sonstigen Kunstszene
schadet inzwischen paradoxerweise ihrer Weiterverbreitung. In einer
kleinen, selbst organisierten Szene von Spezialisten werden
Netzkunst-Arbeiten zwar durchaus goutiert und diskutiert. Aber alle, die
nicht zu den Spezialisten gehören, diskutierten und goutieren nicht mit. So
bleibt man unter sich, und die Netzkunst wird von der Debatte über
zeitgenössische Kunst schlicht übergangen.

Inzwischen ist sich darum zum Beispiel der slowenische Netzkünstler Vuk
Cosic sicher: „Auch wenn wir früher das Gegenteil behauptet haben, glaube
ich heute, dass die Kunstwelt unser vorbestimmtes Ziel ist“, sagt er und
nennt eine Reihe von Museen, die mit ihm zusammenarbeiten wollen. Wenn die
traditionelle Kunstszene nun doch noch die Netzkunst entdecken sollte,
hätte sie einmal mehr ihre Integrationsfähigkeit bewiesen: Von Dada über
Fluxus, Performance, Happening bis hin zu Video und Kontextkunst ist es ihr
noch immer gelungen, Kunstrichtungen, die mit der Rhetorik von der
Auflösung der Grenzen zwischen Kunst und Nichtkunst angetreten sind,
schließlich wieder ins Museum einzugemeinden.

Und sollte das nicht geschehen? Dann wäre die Netzkunst jene Kunstrichtung
gewesen, die kapitulieren musste, weil sie die zentralen Forderungen der
Moderne mustergültig erfüllte: die „Dematerialisierung des Kunstobjekts“
(Lucy Lippard), die vollkommene Unabhängigkeit vom Kunstbetrieb und die
Verbindung von Kunst und Leben. Dann würden die Blumen im Tele-Garden von
Ken Goldberg verdorren, unzählige Megabytes der Daten, die von
Künstlerhänden auf Internet-Computern in der ganzen Welt geladen wurden,
würden unbeachtet vertrocknen. Die Netzkunst wäre an ihren ureigenen
Qualitäten gescheitert.

(c) DIE ZEIT 49/2002

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