Tilman Baumgärtel on Wed, 4 Dec 2002 12:30:04 +0100 (CET)


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[rohrpost] Kritik Future Cinema


http://www.fr-aktuell.de/fr/140/t140001.htm

Lebenslänglich Psycho

Der Traum vom interaktiven Kino ist geplatzt: Das "Future Cinema" der 
Karlsruher Ausstellung ist tatsächlich die Vergangenheit

Von Daniel Kothenschulte

Als sich der Regisseur und die Hauptdarstellerin von Lola rennt seinerzeit 
in London den neuen Godzilla-Film angesehen hatten, schrieben sie eine 
Postkarte. "Eine Minute Sega-World ist aufregender", urteilte die 
Kritikerin Franka Potente vernichtend und fügte erklärend hinzu: "Ist ein 
Videospiel." Offensichtlich ging sie davon aus, dass so ein Filmkritiker 
keine Ahnung habe von den interaktiven Vergnügungen der Jugend. Ist ein 
Videospiel! Aber Recht hatte sie natürlich doch. Man hat es mit zwei Kinos 
zu tun, die parallele Existenzen führen; auch wenn sich das kleine mit dem 
Joystick und das große der totalen Überrumpelung sogar manches 
Multiplex-Foyer teilen und jeder große Kinohit seinen eigenen Game- Ableger 
hervorbringt.

Das große Kino will von uns keine Beteiligung. Es ist eine totalitäre, 
höchst undemokratische Angelegenheit. Hitchcock nannte seine Darsteller 
"Vieh", aber natürlich meinte er noch mehr sein treues Publikum. Und wir 
möchten, wenigstens im Unterhaltungsfilm, genau dieses Vieh sein. Alle 
Versuche des interaktiven Films der 80er Jahre sind genau aus diesem Grund 
im Prototypstadium stecken geblieben. Was hatte man sich nicht einfallen 
lassen. Niklas Schilling, der fast vergessene Autorenfilmer der 70er Jahre, 
rüstete Kinosäle mit Fernbedienungen aus und wartete auf den 
Mehrheitsentscheid. Als hätte sich die Avantgarde je für den größten 
gemeinsamen Nenner interessiert. ARD und ZDF zeigten, um Mehransichtigkeit 
bemüht, den gleichen Krimi zeitgleich auf zwei Programmen - das Publikum 
suchte sich ein drittes und hatte seine Ruhe. Und in der bildenden Kunst 
förderte eine prosperierende Postmoderne ihre eigenen Spielhöllen zu Tage. 
Peter Weibel und Jeffrey Shaw waren die Pioniere dieser interaktiven 
Installationskunst. Wenn sie nun im Karlsruher ZKM eine Ausstellung Future 
Cinema. The Cinematic Imaginery after Film kuratieren, muss man sich zuerst 
ihrer eigenen Werke aus dieser Zeit erinnern.

Peter Weibel lud in den frühen 90er Jahren - etwa in einer Ausstellung der 
Kölner Galerie Grunert - den Zuschauer ein, auf einem begehbaren Keyboard 
in Realzeit visuelle Algorithmen hervorzuzaubern. Die strengen ästhetischen 
Vorgaben erwiesen sich dabei freilich als noch einengender als rechnerische 
Verzögerungen. Bei Jeffrey Shaw konnte man sich auf ein Trimmdichfahrrad 
vor einer Leinwand setzen und die Stadtpläne von Amsterdam oder Hamburg 
durchqueren. Das machte Spaß, auch wenn man dabei meist nach wenigen 
Sekunden in einer Gracht oder der Alster landete. Vor einiger Zeit 
erinnerte noch einmal ein Popvideo an das mit Shaws Arbeit verbundene 
ästhetische Ereignis, aus gedruckten Straßennamen virtuelle Architekturen 
entstehen zu sehen: Gophers The Child zeigte eine rasante Autojagd durch 
ein Manhattan aus Schrift. Dieser ungemein unterhaltsame Clip war aber auch 
ein Triumph der Überrumpelung über die Interaktion. Das Kino hat gelernt, 
seine User auch in Zeiten der Videogames den Joystick vergessen zu lassen. 
Dies geschieht auf mehreren Ebenen, wobei wir wieder bei Tom, Franka und 
Lola wären: Dramaturgische Kniffe lassen die Vorhersehbarkeit vergessen und 
gaukeln dem Zuschauer vor, er hätte plötzlich ein Wörtchen mitzureden. 
Zirkuläre Dramaturgien ersetzten in der Post-Tarantino-Ära die linearen, 
deutlich beeinflusst vom Videospiel. Gleichzeitig näherte sich auch die 
Ästhetik der elektronischen Konkurrenz an: Digitale Aufnahmen und 
Nachbereitungen erfreuen sich einer ungekannten Akzeptanz. Und auch 
inhaltlich variieren Filme wie Matrix, The Game oder Fight Club die 
Mythologie des Videospiels.

Jeffrey Shaws eigener Beitrag, die gemeinsam mit Agnes Hegedüs und Bernd 
Lintermann realisierte Installation ReCONFIGURING the CAVE zitiert schon im 
Titel das Lieblingstheorem aller Cineasten, Platons Höhlengleichnis. 
Tatsächlich schreibt sie die Konzeption von Interaktivität der späten 80er 
Jahre für die Gegenwart fort: Ausgestattet mit einer 3-D-Brille ist der 
Besucher eingeladen, anhand einer virtuellen Gliederpuppe virtuelle Räume 
zu navigieren. Dabei hat er sieben Levels zur Auswahl, aus deren Palette er 
seine Realzeitanimationen generieren darf - dabei stets verwiesen auf die 
Proportionen des menschlichen Musters. Auch wenn das ästhetische Ereignis 
durch ein gegenüber Shaws und Weibels frühen Werken erheblich erweitertes 
Farben- und Formenvokabular gewinnt, treten die Beschränkungen fast noch 
deutlicher hervor. Der Benutzer ist noch immer zum Erfüllungsgehilfendasein 
verurteilt. So wie Mickey Mouse in Disneys Konzertfilm Fantasia ein 
Sternenmeer zu vorgegebener Musik dirigierte, ist er ein Zauberlehrling vor 
der riesigen Karlsruher Leinwand. Nur dass ihm auch die Möglichkeit zur 
Demontage, zur Chaosstiftung, verwehrt bleibt. Die interaktive Kunst ist, 
so lange sie nur eine begrenzte Informationsmenge in die Hände des 
Betrachters gibt, auf zwei Alternativen angewiesen: Entweder sie versteckt 
ihren content so geschickt, dass er sich seiner Erschließung möglichst 
lange entzieht - zu erleben etwa in den frühen CD-ROMs von Chris Marker und 
Laurie Anderson - und wahrt so einen auratischen Kunstwert des 
Unergründlichen. Oder aber sie schwelgt in einem hoffentlich lustvollen 
Malen nach Zahlen, mit allen damit verbundenen Frustrationen.

Das Kino ist klug beraten, die Erzählhoheit für sich zu behalten, und 
braucht die Kunst nicht zu fürchten. So ist es wieder einmal eher die 
Kunst, die vom Kino träumt. Wenigstens über die Hollywoodikonografie 
besorgt man sich gern eine Eintrittskarte, und niemand ist beliebter als 
Hitchcock. Daniel Egg projiziert in seiner Videoskulptur Box 3 "Dialog" 
(1997) das Videobild eines Audio-Tapedecks auf ein reales Kassettengerät. 
Während man dem Ton der vereitelteten Tötungsszene aus Bei Anruf Mord 
lauscht, ersetzen Kassettenwechsel den Bildschnitt: Wenn Grace Kelly Hilfe 
suchend ihren Ehemann Ray Milland am anderen Ende der Leitung unterbricht, 
legt eine lackierte Frauenhand eine Kassette ein. Der Unfug, den eine 
knappe Lesart der gender studies in der Medienkunst anrichtet, findet hier 
seinen Ausdruck: Dass Hitchcock ein ausgemachter Sexist war, wussten wir 
längst. Es wäre Unsinn, anzunehmen, die gerade in diesem Film in Rückgriff 
auf Griffith ausgespielten Spiele mit Macht und Montage bedürften der 
Hervorhebung. Wer den Schnitt hat, sitzt am Drücker. So simpel erklärt sich 
auch weiterhin die Vormachtstellung des Kinos. Es entbehrt nicht der 
Ironie, dass die vielleicht eindrücklichste Arbeit dieser hoch 
technisierten Ausstellung, Jim Campbells Illuminated Average #1, ein 
simples Kleinbilddia ist. Darauf befinden sich, übereinander kopiert, alle 
Einzelbilder aus einem anderen Hitchcockfilm, dem Montagekunststück 
schlechthin, Psycho. Sind an den Rändern noch Einzelheiten zu erkennen, 
füllt die Mitte ein strahlend weißer Fleck. Die gleichwohl zart anmutende 
Lichtzeichnung erinnert dabei an die Röntgenuntersuchung eines alten 
Meisters. Könnte man ein besseres Bild für die andauernde Untersuchung 
dieses Kinogiganten durch die Kunst finden?

Was sollen wir davon halten, dass die Zukunft des Kinos des 
Ausstellungstitels eigentlich die Vergangenheit des Kinos ist? Wenn wir den 
bislang kaum in Europa präsenten Chicagoer Künstler Campbell hier entdecken 
können, haben wir jedenfalls etwas gelernt. In einer zweiten Arbeit führt 
er gar zurück zu den ersten Filmaufnahmen der Jahrhundertwende, deren 
meditativen Blick für die Schönheit profaner Geschehnisse er mit digitalen 
Mitteln fortschreibt. Church on Fifth Avenue könnte ein Titel von Edison 
sein. Aufgelöst in ein Raster aus blinkenden roten Leuchtdioden versteckt 
sich darin eine Straßenszene. Erst eine schräg gestellte Plexiglasscheibe 
verwischt die Lichtpunkte und macht ein Bild daraus. Das ist das wahre 
einfache Wunder des Kinos, die reproduzierte Bewegung. Mehr nicht. Nie wird 
man aufhören, sich daran zu freuen.

ZKM Karlsruhe, bis 30. März.

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