Tilman Baumgärtel on Wed, 29 Jan 2003 17:35:03 +0100 (CET) |
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URL: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=102738 Go MAD Gerhard Schröders "Minority Report" und die Folgen Von Slavoj Zizek In Steven Spielbergs letztem Film, Minority Report, werden Kriminelle verhaftet, noch bevor sie ihr Verbrechen begangen haben. Drei durch wissenschaftliche Experimente in ihren geistigen Fähigkeiten "verbesserte" oder "erweiterte" menschliche Wesen verfügen über die Möglichkeit, in die Zukunft zu blicken. Meistens sind sich die drei Wesen in ihren Prognosen einig; ihre Trefferquote ist nahezu hundertprozentig. Nur in sehr seltenen Fällen weichen die bei der Polizei unter Vertrag stehenden Medien in ihren Vorhersagen voneinander ab. Dann kommt es zum titelgebenden Minority Report. Wenn man diesen Filmplot auf die große Politik überträgt, dann muss einem die "Bush (oder Cheney) Doktrin" einfallen. Sie wurde zur neuen offiziellen Philosophie der US-Administration erklärt: In dem 31 Seiten umfassenden, am 20. September 2002 im Weißen Haus vorgestellten Papier mit dem Titel "The National Security Strategy" werden die veränderten Richtlinien für die internationale Politik erörtert; zu ihnen gehört vor allem das Recht des amerikanischen Militärs zu vorbeugenden Schlägen, zu Präventivkriegen gegen eine Gefahr, die allein als Möglichkeit besteht. Eine solche Gefahr rühre heute von "irrationalen" Fundamentalisten her, die sich, anders als noch die berechenbaren Kommunisten, nicht mehr um das eigene Überleben kümmerten. Die USA möchten in Zukunft also nicht mehr nur solche Länder angreifen, die sie zuvor selber angegriffen haben. Es geht nicht um Verteidigung, es geht allerdings auch nicht mehr um die Doktrin der Abschreckung. Denn jetzt sollen Länder angegriffen werden, über die bloß gemutmaßt werden kann, dass sie die USA angreifen. Für diese Art der Prävention ist ein multilaterales Handeln durchaus vorgesehen. Doch wenn sich die Weltgemeinschaft nicht solidarisch verhalten sollte, dann wird man die Sache zur Not auch im Alleingang regeln. Der Präsident behält sich vor, im Namen eines "gut gemeinten" oder "wohlwollenden" Paternalismus nicht nur andere souveräne Staaten zu bevormunden, sondern auch, die Interessen seiner Alliierten zu definieren. Klarerweise wird mit einem solch mächtig vorgetragenen Interesse die Neutralität von Institutionen wie denen des internationalen Rechts schlichtweg bestritten. Die hier zu Grunde liegende Logik ist einfach: Du bist frei, dich für uns zu entscheiden, aber du bist nicht frei, dich gegen uns zu entscheiden; entweder machst du mit, oder wir machen es ohne dich. Dieses Paradox der erzwungenen Wahl prägt mittlerweile die Politik vieler Staaten. So war auch das Missfallen der US-Administration an den Äußerungen Gerhard Schröders während des letzten Bundestagswahlkampfes klar zu verstehen: Schröders Widerstand gegen eine militärische Intervention in Irak sollte man zu den selbstverständlichen Rechten eines Politikers in einer westlichen Demokratie zählen dürfen, doch alsbald sah er sich vom Ingrimm George W. Bushs eingeholt. Dabei hatte Schröder die Wahl: Bist du für uns oder bist du gegen uns? In der Tat, eine erzwungene Wahl - wenn man voraussetzt, dass es nur die genannten zwei Alternativen gibt. Angesichts der Uneinigkeit über den geplanten Präventivkrieg der USA gegen Irak, konnte man Schröders Votum als eine Art Minority Report betrachten, als ein Minderheitenvotum, in dem er eine andere Zukunft vorhersah. Wir alle erinnern uns an die MAD-Logik ("Mutually Assured Destruction", wechselseitig versicherte Zerstörung), die auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges entwickelt wurde. Im Nachhinein betrachtet, muss sie uns heute geradezu rational erscheinen. In den siebziger Jahren erläuterte uns der Yale-Professor Bernard Brodie, wie diese Logik zu verstehen ist: "Es ist ein seltsames Paradox unserer Zeit, dass die nukleare Abschreckung nur deswegen so effizient funktioniert, weil es die ihr zu Grunde liegende Angst gibt. In wirklich ernsten Krisen könnten sie scheitern. Unter solchen Umständen spielt man nicht mit dem Schicksal. Wenn wir dagegen absolut sicher wären, dass die nukleare Abschreckung uns zu hundert Prozent vor gegnerischen Nuklearangriffen schützt, dann müsste ihre abschreckende Wirkung gegen einen konventionellen Krieg nahe bei null liegen." Es ist festzuhalten, dass MAD nicht deswegen funktionierte, weil sie vollkommen, sondern gerade weil sie unvollkommen war. Eine perfekte Strategie hätte einen entscheidenden Nachteil: Wenn in einem vollkommenen Automatismus auf den nuklearen Schlag der einen Seite sofort der nukleare Schlag der anderen folgen würde, dann muss unberücksichtigt bleiben, dass man auf Seiten der Angreifer immer noch damit rechnen kann, auf der angegriffenen Seite gäbe es rational denkende und handelnde Akteure. Diese hätten nämlich die Wahl, sich entweder für einen Gegenschlag zu entscheiden und damit die ganze Menschheit zu vernichten oder nicht zurückzuschlagen und damit einem Teil der Menschheit das Überleben zu sichern, aber auch - langfristig betrachtet - das Widerauferstehen des eigenen Landes zu ermöglichen. Ein rationaler Akteur würde selbstverständlich die zweite Alternative wählen. Der Punkt aber ist: Solange über seine Rationalität oder, allgemeiner gesprochen: seine Absichten keine absolute Gewissheit herrscht, kann MAD zu keinem vollkommenen Automatismus führen. Jeder der beteiligten Akteure hat die Wahl, und niemand weiß, wie das jeweilige Gegenüber sich entscheidet. Ebendies, die mit der Ungewissheit einhergehende Unvollkommenheit, die Tatsache also, dass wir uns nie sicher sein können, ob MAD tatsächlich funktioniert - ebendies macht MAD so effizient. Denn was würde passieren, wenn eine Konfliktsituation außer Kontrolle gerät, etwa weil wir es mit einer "irrational" entfesselten Aggressivität zu tun haben oder weil es technische Probleme oder Missverständnisse gibt? Gäbe es hier einen perfekten Automatismus bei der nuklearen Abschreckung, dann wäre allen klar: Solange wir keine Atomwaffen einsetzen, ist alles erlaubt; verfeuert alles, was die konventionellen Waffenarsenale hergeben. Die Idee vom perfekten Automatismus suggeriert, dass Atomwaffen nur als Antwort auf einen Angriff durch Atomwaffen eingesetzt werden. Zweierlei Tragödie Weil es aber einen solchen Automatismus nicht geben kann, lässt es keiner zu einer übermäßigen Eskalation anfänglich konventioneller Konflikte kommen: Niemand kann sicher sein, ob nicht einer der Akteure, aus welchen Motiven auch immer, zu nuklearen Waffen greift. Es gibt keinen Schutz vor einer solchen Entscheidung, sie mag irrational sein oder nicht. Ganz im Sinne der Logik von MAD gilt also: Nicht übertreiben! MAD hilft nicht, konventionelle Konflikte zu vermeiden, aber einzudämmen. Mit anderen Worten, die Konsequenz dieser Logik lautet nicht: Wenn wir uns im Sinne der MAD-Strategie verhalten, dann verhindern wir den Atomkrieg. Sondern: Wenn wir der MAD-Strategie folgen, dann können wir die nukleare Katastrophe vermeiden - außer bei unvorhersehbaren Vorkommnissen. Doch zurück zu George W. Bush und seine Doktrin. Das Problem mit ihr liegt darin, dass sie alles Unvorhersehbare ausmerzen will. Anders als noch die MAD-Logik wird hier in einem gewaltsamen Streich die Paranoia einer zukünftigen Bedrohung und deren präventive Bekämpfung kurzgeschlossen. Gegenwart und Zukunft schließen sich oder verschließen sich in einen Zirkel sich selbst einholender Voraussetzungen: Nicht nur setzt die Bekämpfung (des Terrorismus) die Bedrohung (durch Terrorismus) voraus, sondern wird die Bekämpfung ("Krieg gegen den Terror" etc.) auch wieder neue Bedrohungen (Widerstand, Rache etc.) schaffen, also als Bekämpfung die Voraussetzung für diese neuen Bedrohungen sein - die wiederum die Voraussetzung für die erneute Bekämpfung liefert, und so weiter. Die Bush-Doktrin funktioniert geradezu hegelianisch, wie ein Kreis sich selbst setzender Voraussetzungen. Sie ist vollkommen, sie genügt sich ganz und gar selbst. Daraus gibt es kein Entkommen mehr. Die MAD-Logik rechnete noch mit der Endlichkeit alles menschlichen Tuns, die Bush-Doktrin hingegen zielt auf ewige Vollkommenheit. Der britische Literaturwissenschaftler Terry Eagleton hat auf die zwei damit einhergehenden Möglichkeiten aufmerksam gemacht, das Tragische zu denken: Entweder gibt es ein großes, spektakuläres und katastrophisches Ereignis, das die Menschen wie aus einer fremden Welt kommend heimsucht und in den Abgrund zieht, oder es gibt das allmähliche, sich endlos lang ziehende Dahinsiechen ohne Hoffnung. Eagletons Unterscheidung lässt sich ganz praktisch verstehen. Katastrophen, wie sie in der Ersten Welt passieren, etwa die Anschläge vom 11. September, gehören der ersten Alternative an, das endlose Leiden der Palästinenser in der Westbank der zweiten. Das Tragische bricht im einen Fall in eine gelebte Normalität ein, im anderen Fall wird mit und im Tragischen jedwede Normalität suspendiert. Durch die Bush-Doktrin droht nun auch der Ersten Welt, dass der Ausnahmezustand auf Dauer gestellt wird - der israelisch-palästinensische Konflikt als Paradigma für eine neue Weltordnung? Wovor haben die USA Angst? Das Erste, was einem hier auffällt, ist die Befriedigung, mit der viele US-Kommentatoren feststellten, seit dem 11. September wären der Antiglobalisierungsbewegung die guten Gründe abhanden gekommen. Diese Befriedigung macht stutzig. Denn was wäre, wenn sich der "Krieg gegen den Terror" auch als Krieg gegen die entstehende und durchaus wachsende Antiglobalisierungsbewegung erweisen würde? Was wäre also, wenn der "Krieg gegen den Terror" sich nicht so sehr gegen Terroristen, als vielmehr gegen die weltweit operierenden Globalisierungsgegner richten würde? Was wäre, wenn diese Art Kollateralschaden sich als das Ziel des Antiterrorkrieges erweisen würde? Welch raffinierte ideologische Volte, mit der die neue Weltordnung eingeleitet wird: Der scheinbar sekundäre Effekt einer Operation - hier, dass Globalisierungsgegner mittlerweile auch ganz offiziell den Unterstützern des Terrorismus zugerechnet werden - ist der wesentliche. Slavoj Zizek arbeitet in der Philosophischen Fakultät der Universität von Ljubljana, Slowenien. In deutscher Sprache sind zuletzt von ihm erschienen: "Der zweite Tod der Oper" (Kadmos 2002) und "Die Revolution steht bevor" (Suhrkamp 2002). Aus dem Englischen von Christian Schlüter. Dossier: Krieg gegen Irak? International: Straw sieht Bruch der Resolution [ document info ] Copyright © Frankfurter Rundschau 2003 Dokument erstellt am 28.01.2003 um 16:44:53 Uhr Erscheinungsdatum 29.01.2003 ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/