florian schneider on Tue, 17 Jun 2003 00:07:57 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] einmal genf und zurueck |
EINMAL GENF UND ZURUECK Sie sind vermummt mit Skimasken, Palästinensertüchern, haben Motorradhelme auf dem Kopf und tragen meist schwarze Kleidung. Nur eine schmale rote Armbinde verrät, wer wirklich am Sonntagabend des 1. Juli 2003 gegen 21:00 Uhr in das Independent Media Center in Genf eindringt: Die Gewalttäter gehören zu einer Elite-Einheit der lokalen Polizei und haben in den Stunden zuvor das Kulturzentrum l'Usine erst umzingelt, gestürmt und dann die die Holztüren im Inneren des vierstöckigen Fabrikgebäudes mit Äxten aufgebrochen. Als die verkappten Polizisten nach knapp zwei Stunden schließlich auch in den Studioraum des Geneva03 Livestreams einbrechen, sind mindestens sechs Video-Kameras auf sie gerichtet. "Wir übertragen live via Internet, was hier passiert," warnt einer der Medienaktivisten das gute Dutzend Polizisten, die an der Türschwelle verharren. Tausende von Zuschauern und Zuhörern auf der ganzen Welt können diese Szene live miterleben, weil sie den etwa briefmarkengroßen Video-Stream auf ihrem Home-Computer empfangen oder gerade einen der zahllosen Radiosender hören, die das Signal aus Genf im Internet aufgriffen und lokal über UKW, Kabel- und Satellitenkanälen ausstrahlen; oder weil sie rund um die Welt in Bars und Cafes sitzen, die das Livematerial von den Protesten rund um den G-8-Gipfel am Genfer See projezieren. Die zwei Stunden, in denen sie in ihren Studioräumen gefangen gehalten waren, haben die Medienaktivisten dazu genutzt, über E-Mails und Mailinglisten, Internet-Chats und Telefonketten so viele Menschen wie möglich auf die drohende Stürmung des Studios aufmerksam zu machen. Als schwere Polizeieinheiten beginnen, das Gebäude zu umstellen, versammeln sich etwa 30 Medienaktivisten aus dem Geneva03-Team in dem fünfzig Quadratmeter großen Studio. Nach einer kurzen Diskussion ist klar: "Wir werden unsere Maschinen und unsere Bänder nicht alleine lassen." Zu kostbar ist ihnen, was sie im Laufe der letzten Tagen aufgebaut und gesammelt hatten: Ein mit eigenen Geräten eingerichtetes und voll funktionstaugliches TV-Studio mit Dutzenden von Monitoren, Rechnern, Studiokameras, Ton- und Bildmischpulten. Hinzu kommen wahrscheinlich Hunderte von Videokassetten, die den Verlauf der Proteste seit dem vergangenen Donnerstag, als die Camps sich mit jungen Leuten aus ganz Europa füllten, aus den verschiedensten Perspektiven und nahezu lückenlos dokumentieren. Schließlich handelt es sich um Material, das im Laufe der Proteste rund um den Genfer See eine immer größere Bedeutung erlangt: Exklusive Aufnahmen, die Schweizer Polizisten dabei zeigten, wie sie einen Aktivisten, der sich an einem Brückengeländer auf die Autobahn Genf-Lausanne abseilte, um den Konvoi mit den G-8-Personal zu stoppen, mutwillig das Seil abschnitten, so dass er 15 Meter tief in ein steiniges Bachbett stürzte und sich schwer verletzte. Aufnahmen die das brutale Vorgehen der Polizei gegen friedliche Demonstranten zeigten, während dieselben Einheiten bei den andauernden Ausschreitungen eine geradezu lasziv anmutenden Lethargie an den Tag legten. Weil die Mitarbeiter der Agenturen und Fernsehsender solches Material, das den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse annähernd rekonstruiert, in der Regel nicht zu produzieren in der Lage sind, kommt den Aufnahmen und Berichten der unabhängigen und rund um das Indymedia-Center organisierten Journalisten immer größere Bedeutung zu. Wenn diese Aufnahmen später dann auch an Agenturen und Fernsehsender verkauft werden, wird zumindest versucht, sicher zu stellen, dass die darauf Abgebildeten eine Mitspracherecht bekommen, was die spätere Verwertung anlangt, und verantworlich mit etwaigen Konsequenzen aus einer Veröffentlichung umgegangen wird. Jetzt sitzen sie auf einmal eng aneinander gedrängt auf Sesseln, Sofas, Bierbänken und auf dem Fußboden: Netzwerkadministratoren, die neben dem Studio-Netzwerk noch ein Internet-Cafe mit etwa 50 Rechnern in der Public-Access-Area aufgebaut hatten, an denen Besucher Berichte lesen und verfassen konnten. Video-Editoren, die eingehendes Videomaterial in Windeseile zu Kurzberichten, Trailern und Jingles zusammenschnitten. Radiomacher, die Live-Programme für Sender wie das Lokalradio Lora in Zürich oder das Ersatzradio-Projekt der Volksbühne Berlin verfassten. DJ's und VJ's, die Musik und Live-Aufnahmen zusammenmischten. Es handelt sich um Techniker, Künstler, Journalisten und Aktivisten aus über zehn Ländern, die sich alle nicht auf eine Rolle reduzieren geschweige denn in eine Arbeitsteiligkeit pressen lassen wollen; die sich nicht als neutrale Berichterstatter außerhalb der Bewegung begreifen, sondern aktiver Bestandteil der Mobilisierung sind; die mit ihren Berichten und Reportagen, Clips und Studiodiskussionen eine unabhängige Berichterstattung aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln erreichen wollen, um so einen möglichst ungehinderten und unzensierten Zugang zu den Ereignissen gewährleisten; die mit Studiodiskussionen die vielfältigen Inhalte verbreiten wollen, die bei dem hektischen Hin- und Her der Straßenproteste nur zu leicht unterschlagen werden. Im Video-Studio herrscht angespannte Stille. Abwechselnd flüstert einer der Videoaktivisten über die Live-Bilder aus dem Studio, die wegen der aufziehenden Dunkelheit immer körniger werden: "Hier ist der Geneva03 Livestream. Das Gebäude, in dem sich unser Studio befindet, ist von der Polizei umzingelt. Wahrscheinlich wird die Polzei in den nächsten Minuten in unser Studio eindringen. Wir werden versuchen, solange wie möglich auf Sendung zu bleiben." Aus dem Treppenhaus und aus den Räumen in den anderen Stockwerken sind die stumpfen Schläge der Axt, das splitternde Holz und immer wieder Schreie zu vernehmen. Einige im Studio haben Angst und halten sich gegenseitig im Arm. Andere wispern in ihre Mobiltelefone oder lehnen sich aus dem Fenster um die Namen der Eingeschlossenen an Rechtsanwälte durchzugeben. Alle Viertelstunde kommt ein Mitarbeiter der Usine durch den Notausgang und versucht die aktuelle Lage zu schildern. Er fragt, wer den Raum über die Hintertreppe verlassen will. Es meldet sich niemand. In den Nachmittagsstunden des 1. Juni hatte sich die Situation rund um das Kulturzentrum im Herzen von Genf dramatisch zugespitzt. Polizeieinheiten drängten die Demonstranten, die seit den frühen Morgenstunden versucht hatten, die Abreise der in Genfer Hotels untergebrachten Delegierten des G-8-Gipfels zu blockieren, systematisch in Richtung Kulturzentrum l'Usine. Um die Situation zu entspannen, beschlossen die Mitarbeiter der Usine, Tische und Bänke auf dem kleinen Place des Volontaires zu stellen und kostenloses Abendessen auszugeben. Dieser Plan ging zunächst auf: Die Lage rund um die Usine entspannte sich, nur ein paar hundert Meter weiter, die Rhone abwärts lieferten sich ein paar Dutzend Jugendliche kleine Scharmützel, die die für bürgerkriegsähnliche Zustände ausgerüsteten Riot-Polizisten ziemlich unbeeindruckt ließen. Gut eine halbe Stunde später wurde dann deutlich, dass das Interesse der Polizei auch an diesen Abend nicht den "Casseurs" galt, wie die schwarz vermummten, meist keine achtzehn Jahre alten Kids im Französischen heissen, die in einem Katz- und Maus-Spiel ziemlich planlos und vor allem offensichtlich unorganisiert einzelne Flaschen und Steine auf die vorrückenden Polizeieinheiten schmeissen und sofort davonrennen, sobald sich eine Polizeikette ein paar Meter nach vorne bewegt. Kurz nach halb neun Uhr prescht eine Spezialeinheit der Genfer Polizei durch die Straßen und stoppt in hohem Tempo in einer Seitenstrasse neben der Usine. Aus den Wägen springen Vermummte, die nur allzu perfekt in das Klischee randalierender Chaoten passen: In schwarzer, abgerissener Kleidung, bewaffnet mit Stöcken und Helmen dringen sie schnell zum Haupteingang der Usine vor. Dort haben sich die Mitarbeiter des Betriebes postiert und versuchen die Situation unter Kontrolle zu bringen: Sie bitten die aufgescheuchte Menge sich wieder hinzusetzen, versuchen von den anstürmenden Polizisten das Ziel der merkwürdigen Aktion zu erfahren. Doch diese verzweifelten Versuche sind von vorneherein zum Scheitern verurteilt: Mit roher Gewalt dringen die vermummten Polizisten durch den Haupteingang. Wer im Weg steht wird, wird weggeknüpelt. Sobald die Under-Cover-Polizisten sich Einlass verschafft haben, sperren offizielle Einheiten weiträumig den Zugang zum Zentrum ab. Was innerhalb der Usine von nun an vorgeht, soll sich den Augen der Öffentlichkeit entziehen. Im Nachhinein wird klar, dass die Polizei zunächst mit großer Brutalität vorgeht: Einer Filmemacherin aus den USA wird ein Zahn ausgeschlagen und die Videokassette mit dem gefilmten Überfall auf die Usine vernichtet. Ein Indymedia-Aktivist aus Italien trägt eine schwere Kopfwunde davon ebenso ein Angestellter der Usine, dessen aufgeplatzte Kopfhaut später mit sechs Stichen genäht werden muß. Journalisten im Indymedia-Center werden verhaftet, obwohl oder gerade weil sie ihre offizielle Akkreditierung für den G-8-Gipfel vorweisen. Die Polizei schlägt ohne Not Glasscheiben und Fenster ein, Ateliers und Arbeitsräume werden mit Äxten aufgebrochen. In den oberen Stockwerken, in denen Computer-Schittplätze eingerichtet sind, werden Filmemacher mit Plastikstricken gefesselt, die tief ins Fleisch schneiden. Insgesamt kommt es zu elf Festnahmen. Das Video-Studio des Geneva03 Live Stream ist der letzte Raum, in den die Polizei eindringt. Inzwischen wurden Parlamentarier des Kanton Genf und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, die als Legal-Team zwischen Polizei und Demonstranten vermitteln wollen, alarmiert und haben sich zur Usine begeben. Sie sind noch nicht dabei, als eine Mitarbeiterin der Usine den Polizisten die Studiotüre öffnet. Die vermummten POlizisten bleiben in der Türe stehen. Sie starren auf einen Großbildschirm der in der Mitte des Studios aufgebaut ist und die Bilder des Livestreams überträgt. Auf dem flackernden und wegen der schlechten Beleuchtung grün-braun einfärbten Bild müssen sie eine überraschende Entdeckung machen: Die Polizisten sehen sich selbst, wie sie im Türstock verharren. Sie heben den Blick und schauen in sechs Kameras, die auf sie gerichtet sind. Nach einiger Zeit wagt sich dann der Einsatzleiter über die Schwelle. "Alle an die Wand, Hände über den Kopf und Kameras aus!" befiehlt er. Ein Teil der Video-Aktivisten kommen der Aufforderung nach, andere versuchen den Anlass beziehungsweise die rechtliche Grundlage des außergewöhnlichen Polizeiaktion in Erfahrung zu bringen. Internationale Presseausweise und alle Verweise auf Pressefreiheit und Redaktionsgeheimnis werden vom Einsatzleiter ignoriert. Nach einigen Minuten fallen die Bilder des Livestreams aus, der für einige Zeit nur noch Töne sendet, bis ein Polizist vielleicht sogar unabsichtlich ein Netzwerkkabel herausreißt. Doch auch nach dem Ausfall des Streams sind die Aktivisten über Mobiltelefone live auf Sendung. Die Studiobelegschaft wird in zwei Gruppen separiert und einzeln in einen Nebenraum abgeführt. Dort sammeln dieselben als Krawallmacher getarnten und nach wie vor vermummten Polizisten alle Reisepässe ein und durchsuchen die gesamte persönliche Habe. Inzwischen sind auch die Parlamentarier und das Legal-Team in die Studioräume eingelassen worden und die zusehends konfus agierenden Polizisten zeichnen sich plötzlich auch durch korrektes Verhalten aus. Der Einsatzleiter beginnt nun zumindest die weitere Vorgehensweise zu erläutern. Davon, dass wie zu Beginn der Aktion erwähnt Videomaterial beschlagnahmt werden solle, ist keine Rede mehr. Stattdessen heißt es, dass alle Ausländer mit auf das Revier genommen werden, das gesamte Gebäude verschlossen und versiegelt werden solle. Die Videoaktivisten machen klar, dass dies für sie nicht in Frage kommt und verlangen erneut nach einer rechtlichen Grundlage für dieses Vorgehen und nach Kontakt mit einem Anwalt. Der Einsatzleiter weicht aus und verweist auf eine politische Entscheidung, die angeblich Michelle Spoeri, Leiterin des Genfer Polizei- und Justiz-Departments gefällt habe. Nach längeren Diskussion gibt es einen Vorschlag zur Güte: Der Einsatzleiter, inzwischen wohl recht beeindruckt von der technischen Ausrüstung des Studios und den unerwarteten Komplikationen, will sich bei seinen Vorgesetzten dafür stark machen, dass der ursprüngliche Beschluss zurückgenommen werde, und Indymedia Center und der Geneva03 Live Stream ihre Arbeit wieder aufnehmen können, zumal keinerlei Indizien für etwaige widerrechtliche Handlungen ausfindig gemacht werden konnten. Nach weiteren zwanzig Minuten gibt er das Ende des Polizeieinsatzes bekannt und verabschiedet sich. Die Aktivisten atmen auf. Einige von ihnen waren dabei, als fast genau vor zwei Jahren in Genua schon einmal das Indymedia Center im Rahmen der Proteste gegen den G-8-Gipfel von der Polizei gestürmt wurde. Damals wie heute lautete die Begründung, die die Polizei später der Presse gegenüber vorschob: Der Indymedia-Center stelle die Kommandozentrale des "Schwarzen Blocks" dar. In Genua ging die Polizei mit einer Brutalität vor, die eher an eine Militärdiktatur als einen demokratischen Rechtsstaat erinnerte: Zahllose Verletzte, zertrümmertes Equipment und traumatisierte Aktivisten waren die Bilanz des Überfalls. Im schweizerischen Genf ist eine solche Vorgehensweise auch im Ausnahmezustand der letzten Tage nicht vorstellbar. Dennoch stellen die Videoaktivisten vom Geneva03 Livestream auf einer Pressekonferenz am kommenden Tag einen alarmierenden Verstoß gegen die Pressefreiheit fest, der auch nicht dadurch weniger schwer wiege, dass die Polizei unter den Augen neutraler Beobachter und angesichts einer Live-Video-Berichterstattung in alle Welt ab einem gewissen Zeitpunkt sich offenbar einigermaßen am Riemen gerissen hat. Die Erstürmung des Gebäudes und das gewaltsame Eindringen in die Redaktionsräume, die die ganzen Tage zuvor für Besucher offenstanden, die mehrstündige Festsetzung aller Anwesenden und die offen ausgesprochene und bei einzelnen Video-Reportern dann auch wahr gemachte Vernichtung von journalistischem Material stellen eine existenzielle Bedrohung für ein Projekt dar, dessen Ziel der freie und ungehinderte Zugang zu Informationen ist. Dies wiegt umso schwerer, als die Stadt Genf im kommenden Dezember Gastgeberin des UNO-Gipfel zur Informationsgesellschaft ist. Die Medienaktivisten haben den Geneva03 Live Stream von Anfang an bewußt in den Zusammenhang mit dem Gipfel im Dezember gestellt und machen aus ihrer Verärgerung keinen Hehl: Sowohl auf einer Pressekonferenz am nächsten Nachmittag sowie im Gespräch mit Parlamentariern, die am Montagabend in das Kino neben dem Video-Studio eingeladen wurden, um sich die Aufnahmen von der Stürmung der Usine anzusehen. Am Dienstagabend, als der sechstägige Live-Stream dann mit einer Abschlusserklärung zu Ende geht und die Aktivisten gemeinsam zum Abendessen gehen, ist allen klar: Im Dezember, da wollen sie zurückkommen nach Genf und neben einer Konferenz, einer Reihe von Workshops, Ausstellungen und Konzerten wieder einen Live-Stream organisieren. FLORIAN SCHNEIDER http://www.geneva03.org http://v2v.indymedia.de http://www.indymedia.org/g8 ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/