sab on Wed, 3 Sep 2003 14:20:55 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Netzausbeuter |
Liebe gelistete, Nach längerem überlegen und kontroversen Diskussionen, haben wir uns dazu entschlossen, nachfolgenden Bericht hier zu Veröffentlichen. Wir denken, daß unten geschilderter Fall dem einen oder der anderen in dieser Liste ähnlich passiert ist oder es einen oder eine im Bekanntenkreis gibt, die ein ähnliches Schicksal teilt. --------------------------------------------------------------------------- ---- Die Geschichte vom Netzarbeiter Lemuel Pitkin (alle Namen geändert) Aufgezeichnet von nick n0name In dem schäbigen Bahnhofscafè in einer der grössten Bankenstandorte Deutschlands sitzt mir Lemuel gegenüber. Nervös zieht er an seiner selbstgedrehten Kippe. Die Nikotinverkrusteten Hände kneten unaufhörlich das Einwegfeuerzeug. Blutunterlaufene Augen zucken beständig und können meinem fragenden Blick nicht standhalten. Eine riesige Alkoholfahne weht aus seinem Mund. Lemuel sagt, er sei schon besser dran. Jetzt, wo er endlich Stütze erhalte. Einen Netzjob könne er derzeit nicht machen, auch weil man ihm seinen Mac geklaut habe und er zudem obdachlos sei. Spöttisch fügt er an, daß diese Stadt noch nicht einmal Hotspots unter Brücken einrichten könne. Ich will wissen, wie er, der er vor Jahren eine scheinbar steile Kariere im Netzbetrieb vor Augen hatte, so tief sinken konnte. Und so erfahre ich die tragische Gschichte von einem Mann, der auszog, daß Glück zu erfahren und der nun heim kommt, schäbig und abgewetzt, mit kaum weniger als dem nächsten morgen vor Augen, wenn er Ihn denn erlebt. Alles begann damit, daß vor mehr als einem Jahr ein gewisser Guido auf ihn zutrat und ihn bat, für seine Agentur ein CMSzu entwickeln. Die Jahre zuvor hatte sich Lemuel in der Szene einen guten Namen gemacht und er arbeitete als Freier für div. Agenturen. Guido eröffnete Lemuel ein sagenhaftes Angebot und, sichlich etwas blind, lies Lemuel sich darauf ein. In mehreren Abstimmungsgesprächen klopften sie das zu entwicklende CMS ab und Lemuel machte sich an die Umsetzung. Abgerechnet werden sollte mit Einführung des CMS. Der Einführungstermin wurde immer wieder verschoben und aus den anfänglich verständlichen Verbesserungswünschen wurde alsbald eine immer deutlich werdendere Hinhaltetaktik. Nach einem halben Jahr beschloss Lemuel eine Zwischenrechnung zu stellen. Das führte dazu, daß Guido ihn in die Agentur bestellte und vor versammelter Manschaft zur Sau machte. Anschliessend nahm ihn Guido beiseite und meinte, er solle es nicht persöhnlich nehmen. Aber er müsse verstehen, daß er, Guido, sich nicht von seinen Mitarbeitern unter Druck setzen lassen dürfe und er entsprechend hart reagieren musste. Um zu versöhnen bot Guido Lemuel an, richtig in die Agentur einzusteigen. Als Teilhaber und stellvertrender Geschäftsführer. Noch sichtlich geknickt bat sich Lemuel Bedenkzeit aus. Das aber wiederum brachte Guido erneut auf die Palme und er beschimpfte Lemuel aufs Neue. Er sei ein Weichei und Schimmelbrotfresser und er solle sich Entscheiden und nicht rumkrebsen und den Wurm machen. Diese Taktik, so Guido, sei ihm schon bei der Entwicklung des CMS arg auf den Kecks gegangen. Entweder, so erzählt Lemuel mit angsterfüllten Augen, er solle sich sofort für das Angebot entscheiden oder sich vom Acker machen. Es kam, wie es kommen musste. Lemuel willigte ein und sein Martyrium begann nun erst so richtig. Als erste Konsequenz ergab es sich, daß er seine bisherigen Kunden nicht mehr bedienen konnte. So brachen diese Einnahmen weg und Gelder aus der Agentur von Guido tröpfelten nur zäh auf sein Konto. Nach einem drei viertel Jahr waren die Reserven ausgeschöpft: Lemuel musste seine Autos verkaufen und in eine Mietwohnung umziehen. Statt Lohn zu erhalten musste er immer wieder Geld in die Agentur pumpen um die Mitarbeiter auszahlen zu können. Seine Abhängigkeit von Guido, der ihn immer wieder mit Privatkrediten aus dem gröbsten rettete nahm von Monat zu Monat zu. Zu spät erkannte Lemuel das Disaster, in das er sich da hineinbegeben hatte. In einem klärenden Gespräch mit Guido wollte er die Schieflage wieder gerade rücken und nebenbei seine ausstehenden Gehälter ultimativ einfordern. Es kam wie es kommen musste: Guido schmiss ihn aus seinem Büro und erteilte ihm Hausverbot. Mit nichts in der Hand, denn, so stellte sich auf mein Nachfragen heraus, Lemuel hatte nichts, aber auch gar nichts Vertraglich fixiert. Man habe eben auf zuruf zusammen gearbeitet, so wie es in der Branche eben üblich sei. Gedemütigt und eh schon Tablettenabhängig begann er seinen Kummer stilgerecht mit Whisky zu ertränken. Seine Lebenspartnerin verlies die gemeinsame Wohnung und beantragte das Sorgerecht für die gemeinsam Tochter. In die Agentur traute er sich nur noch einmal, um seine Arbeitscomputer zu holen. Das aber misslang, weil Guido wie zufällig zugegen war und ihm eine ordentliche Abreibung verpasste, bei dem er einen Schneidzahn verlor. Absolut Desillusioniert verlor er seinen Halt im Leben, lies seine Wohnung vergammeln bis ihn der Vermieter mit Sack und Pack vor die Tür setzte. Seit dem, so Lemuel, treibe er sich in den Strassen der Bankenstadt herum. Anfangs schämte er sich noch, wenn er ehemaligen Kunden oder Kollegen begenete und die angewiedert auf seine verkotetet Hose starten. Mittlerweile aber, so Lemuel, grinse er sie mit seinem Zahnlosen Grinsen an und beschimpfe sie als verdummte Poppupser, die immer noch meinten, das Netz verändere die Welt. Zittrig bittet er mich kleinlaut, ihm doch noch fünf Euro zugeben, damit er im nächsten Internetcafè seine Mails abrufen könne. Er erwarte dringend eine Mail von einem Kunden, wie er sagt, ein grosses Ding, eines, daß ihn zurückbringe, ins Geschäft. Denn er habe es immer noch drauf. Ich schalte mein Tonband ab, gebe ihm die fünf Euro und wir verabschieden uns herzlich mit einem "demnächst im Netz". Mit gesenktem Haupt und wackeligen Schritten schleicht Lemuel von dannen. Lange blicke ich ihm hinterher bis mich eine freundliche Stimme aufschreckt und mir die Rechnung entgegenstreckt. 250 Euro. Für was, frage ich? Lemuel, so die freundliche, aparte Stimme, habe gesagt, ich würde die Zeche der letzten drei Monate zahlen. Nick n0name --------------------------------------------------------------------------- ---- nocopyright by n0name + aus7.org SaB.->* ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/