Andreas Broeckmann on Thu, 17 Dec 1998 12:32:39 +0100


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Syndicate: [ueber die grenze] einmal albanien und zurueck


Date:         Wed, 16 Dec 1998 14:38:17 +0100
Reply-To: "COYOTE-L -- Mailingliste der Kampagne \"Kein Mensch ist
              Illegal\"" <COYOTE-L@RELAY.CRG.NET>
From: "[ueber die grenze]" <grenze@CRG.NET>

[hier mein bericht von der reise am wochenende nach vlore.
koennte jemand das ins englische uebersetzen? /florian]

MAUER MITTEN IM MEER

Besonders neu ist dieser Traum nun wirklich nicht: Für ein Europa ohne
Grenzen gingen Jugendliche schon in den Fünfziger Jahren auf die Stra�e.
Ein Europa aber, in dem nicht nur die Schlagbäume an den Binnengrenzen
der Schengenländer fallen, sondern in dem das Recht auf Freizügigkeit
für alle Menschen gilt, erscheint mittlerweile unwirklicher denn je. Die
Grenzgegner von heute machen auch gar keinen Hehl daraus, daÃ? sie sich
selbst für Träumer halten: "Wir sind die Gespenster, die nach wie vor
Europa hinterherjagen", hieÃ? es in einem Aufruf, der seit Wochen unter
dem Titel "Von Skandinavien nach Albanien" im Internet zirkulierte.

Kurz nach SchluÃ? der offiziellen Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der
Erklärung der Menschenrechte und während sich in Wien die
Regierungschefs der EU versammelten, haben in der vergangenen
Freitagnacht knapp 400 Bürgerrechtsaktivisten aus mehreren  Städten
Italiens sowie verschiedenen Ländern Europas den "Intercity Night" von
Mailand nach Brindisi besetzt. Aufgerufen hatten die "Centri Sociali",
eine Jugendbewegung, die seit Mitte der 80er Jahre für selbstverwaltete
Räume in Italiens Städten kämpft. "Zug der Träumer" nannten sie ihre
Unternehmung: Ohne den Fahrpreis zu zahlen und ohne dabei auf
nennenswerte Gegenwehr zu stoÃ?en, kamen die Aktivisten nach einer
zwölfstündigen Zugfahrt in Apulien an, um von dort über den Kanal von
Otranto in die albanischen Hafenstadt Vlore überzusetzen.

Träume gehen schlie�lich oft die umgekehrten Wege. Anstelle der aus den
Fernsehbildern bekannten, mit Flüchtlingen überladenen Schiffe, die die
gefährliche �berfahrt auf illegalem Weg riskieren, charterten die
Träumer bei einer Reederei die Autofähre "Illyrus" und starteten die
Reise in die entgegengesetzte Richtung. "Traghetto della cittadinanza
universale", Schiff der Weltbürgerschaft wurde das Boot getauft und
gemeint sind damit gleiche Rechte für alle, egal aus welchem Land sie
kommen. Um sich schon einmal vorzustellen, was eine solche
Weltbürgerschaft bedeuten könnte, gelang den Italienern, mit einigem
Verhandlungsgeschick zumindest an diesem Wochenende alle Grenzkontrollen
zu passieren, ohne je Reisepässe vorzuzeigen. Mit dem "Pakt von Valona",
wie Vlore auf italienisch hei�t, soll dies nun auch Flüchtlingen und
Migranten ermöglicht werden: Angekündigt wurde der Aufbau eines
Informationszentrums in der albanischen Hafenstadt, um die Einreise in
die Europäische Union zu erleichtern.

Was auf den ersten Blick bloÃ? dreist wirkt, zielt schlieÃ?lich gegen
absurde Wirklichkeit eines geteilten Europas und mitten ins Herz der
Schengener Verträge. Deren  restriktive Einreisebestimmungen haben
Europa einmal mehr gespalten. Wo noch bis vor kurzem der "Eiserne
Vorhang" verlief, haben einzig die Betreiber des Grenzregimes
gewechselt. Im Mittelmeerraum jedoch haben die Schengener Bestimmungen
eine erheblich grö�ere Brisanz: Zwischen Länder, die noch vor kurzem
oder endlich wieder Nachbar- oder Anrainerstaaten sind, wurden plötzlich
Grenzen gezogen, die über Jahrhunderte hinweg gewachsene kulturelle und
ökonomische Wechselbeziehungen von einem Stichtag auf den anderen
kappen.

"Keine Mauer mitten im Meer!" stand in albanischer und italienischer
Sprache auf Transparenten, die längs der Sprossenwände in der Turnhalle
von Vlore aufgespannt waren. Nach achtstündiger Schiffahrt waren die
Aktivisten mit dem Einbruch der Dunkelheit in Albanien gelandet, wo
bereits seit Stunden Hunderte von Menschen mit Blumen in den Händen auf
das Eintreffen des Schiffes warteten. StraÃ?enbeleuchtung gibt es in
Vlore nicht und nachts ist die Angst vor den bewaffneten Banden, die die
160.000-Einwohner-Stadt  regieren, groÃ?. Ein umso eindrucksvolleres
Symbol war der Fackelzug, der sich die lange Mole hinunter zum
Sportzentrum auf den Weg machte. An der Spitze ging der Bürgermeister
von Vlore, begleitet von Abgesandten der Stadtverwaltungen von Venedig
und von Monopoli, einer apulischen Küstenstadt, deren Einwohnerschaft
sich seit Jahren vorbildhaft um die Aufnahme albanischer Flüchtlinge
bemüht.

Kurz vor der Küste hatte ein Boot neben OSZE-Vertretern bereits den
albanischen Kultusminister Edi Rama an Bord der Fähre gebracht. Er ist
ein weit über die Grenzen Albaniens hinaus bekannter bildender Künstler,
war seinerzeit der erste, der öffentlich gegen die Hodsha-Diktatur
protestierte und auch früh gegen Berisha mobil machte. Bei der
feierlichen Begrü�ung der "inoffiziellen Botschafter Italiens" sagte
Rama: "Es geht um das Recht, dahinzugehen, wo wir wollen, so oft wir
wollen und solange wir wollen - ohne dabei als Kriminelle oder Diebe
diffamiert zu werden." Und der Rapper von "Assalti Frontali" schlug
unter tosendem Applaus vor: "Leute, kommt nach Rom, aber laÃ?t euch
unterwegs nicht erwischen!"

Kanal von Otranto wird die Meerenge zwischen Albanien und Apulien
genannt. Seit dem Beitritt Italiens Ende 1997 ist dieser Teil der Adria
die Achillesferse der Schengenländer und seit dem 28. März vergangenen
Jahres ein Massengrab: 81 Menschen kamen bei dem Schiffsunglück um, als
ein Boot der italienischen Marine ein albanisches Flüchtlingsschiff
versenkte, vierzig Leichname hat das Meer nie wieder zurückgegeben. Die
Hinterbliebenen der Opfer haben sich in Komitees auf albanischer und
italienischer Seite zusammengeschlossen und Aferdita Bani, die
Präsidentin der Vereinigung, schleuderte am Nachmittag ihre Frage wieder
und wieder gegen die Fluten: "Wer hat unsere Kinder getötet?" Zum
Gedenken an die Opfer des Schiffsbruchs und die Hunderte von
Menschenleben, die das Schengener Grenzregime in den vergangenen Jahren
kostete, flogen in einer Schweigeminute zahllose Blumen in die graue
Adria. "Unser Europa hat keine Grenzen" skandierten die Aktivisten
danach und fügten trotzig hinzu: "Wir sind alle Illegale!"

Die Erbitterung und Entschlossenheit, mit der Italiener und Albaner am
Wochenende gemeinsam gegen die europäische Abschottungspolitik
opponierten, fuÃ?t darauf, daÃ? Migrationsbewegungen in Italien wesentlich
festerer Bestandteil des politischen und kulturellen AlltagsbewuÃ?tseins
sind als hierzulande. Selbst Präsident Scalfaro sagte letzte Woche in
Melbourne, einer Stadt, in der jeder zweite Einwohner Nachkomme
italienischer Einwanderer ist: "Europa darf seine Türen nicht
verschlieÃ?en!" Aussagen, die sich in Deutschland kaum jemand mehr offen
auszusprechen traut, und nicht nur mit einer mediterranen Mentalität zu
erklären sind, die sich schon im Faschismus der vollständigen Umsetzung
der deutschen Rassegesetze entzog.

Der Philosoph Giorgio Agamben rückte kürzlich in einem Interview die
Logik der Internierung und Seggregation von Menschen ohne jedes
Bürgerrecht in die Nähe zu Schutzhaft und Konzentrationslagern. Ende
Oktober wurde in Triest dann ein ganzes Abschiebelager, hinter dessen
Mauern unerträgliche Bedingungen herrschten, nach lautstarken Protesten
geschlossen. In dieser Woche lief auÃ?erdem die Frist ab, innerhalb der
sich illegale Einwanderer in Italien legalisieren lassen können. Die
Regierung hat vorab eine Quote von 38.000 Personen festgelegt, für die
die Regularisierung gelten soll, doch der Papst geht noch weiter. Er
forderte,  mit einer "Amnestie 2000" alle der rund 200.000
"Clandestini", wie  illegale Einwanderer in Italien heiÃ?en, mit
ordentlichen Aufenthaltstiteln auszustatten.

Da� es dahin oder gar bis zur Weltbürgerschaft noch ein langer Weg ist
und vielerlei Auseinandersetzungen geführt werden müssen, wurde den
Aktivisten auf der Rückreise bewu�t. Als der griechische Kapitän sich
aus unerfindlichen Gründen weigerte, drei albanische Kinder mit an Bord
zu nehmen, die dringende medizinische Versorgung in Italien benötigten,
kam es zum einzigen ernsten Zwischenfall der ganzen Reise: Erst nach
zwei Stunden, einer kleinen Schlägerei und nachdem sich einige der
Passagiere aus Protest über die Reling hängten, lenkte der Kapitän ein
und lieÃ? die Kinder einsteigen.