Andreas Broeckmann on 18 Apr 2001 07:06:28 -0000


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[rohrpost] Weber: Choreographie und neue Technologien


http://www.nzz.ch/
6. April 2001     

Mathematische Tänze


Choreographie und neue Technologien

 Mittels Computer lassen sich Bewegungen austüfteln, welche nicht auf der
Hand liegen. Das haben innovative Choreographen wie Merce Cunningham und
William Forsythe schon längst erkannt. Heute experimentieren zahlreiche
Tanzschaffende auf verschiedenen Ebenen mit neuen Technologien, wie am
letzten Monaco Danses Dances Forum zu sehen war. Unter ihnen auch der in
Zürich lebende Pablo Ventura.


Dieses Studio hat keinen Spiegel. Und der  Tanzboden ist ein ganz
gewöhnlicher Spannteppich. Denn eigentlich ist das Tanzstudio, indem Pablo
Ventura seine Choreographien entwirft, ein Büro, das irgendwo sein könnte,
wo es Strom gibt. Zufällig ist es in Zürich Albisrieden,   im ersten Stock
einer alten Fabrik. Hier tüftelt der  Spanier an seinen Tänzen. Und er
tüftelt mit System und mit der Maus: Dieser Tanz wird am Bildschirm
entworfen. Seit 1997 experimentiert er   mit
<http://www.lifeforms.com>Life Forms,* einer Choreographie-Software   von
Credo Interactive, die Ende der achtziger   Jahre entworfen wurde für Merce
Cunningham,   den grossen Mann des Postmodern Dance. In  den frühen
neunziger Jahren begann Cunningham mit Life Forms zu choreographieren
undführte so die Arbeit nach dem Zufallsprinzip weiter, die er in den
fünfziger Jahren zusammen mit John Cage entwickelt hatte. Damals entschied
Münzwurf über Reihenfolge, Länge der Bewegungen, Einsatz der Tänzer usw.,
heute bringt Cunningham am Bildschirm Bewegungen zusammen, die er sich so
nicht hätte ausdenken können.«Was mich von Anfang an am meisten
interessierte», sagte er in einem Interview, «war nicht die
Speicherfähigkeit, nicht die Möglichkeit der   Notation, sondern die
Tatsache, dass ich so neue   Dinge machen konnte.»


Jenseits der Anatomie

Ähnlich argumentiert heute Pablo Ventura.   Frustriert über die Grenzen des
eigenen Körpers,   gefangen in der Tanzsprache, die er gelernt hat,   wie
auch in den Kompositionsmethoden, mit   denen er arbeitete, hat er sich wie
viele jüngere  Choreographen von dem für und mit Cunningham entwickelten
Programm einen neuen kreativen Input erhofft. Und schnell hat er gemerkt,
dass das, was er da per Mausklick am Bildschirm   entwirft, grosse
Ähnlichkeit besitzt mit dem, was   er im Studio erarbeitet. Der Choreograph
findet   sich am Bildschirm vor einem leeren Raum, in   den er eine jener
flexiblen Drahtfiguren setzt,   welche das Programm vorgibt: «Male»,
«Female»   oder «Female thin». Mit der Maus werden nun  die einzelnen
Glieder bewegt: Oberkörper, Oberarm, Unterarm, Hand, Hüfte, Oberschenkel,
Unterschenkel, Fuss, links und rechts usw. - die   Einstellung «enable
limit» verhindert, dass den   Figuren Bewegungen abverlangt werden, welche
der menschlichen Anatomie nicht entsprechen.  (Rotationen des Oberschenkels
um 180 Grad beispielsweise sind Trickfilmfiguren vorbehalten, für die das
Programm ebenfalls gebraucht wird.)


Vier bis sechs Positionen setzt Ventura, der   Computer wählt den
schnellsten Weg - was, wie   die Tänzerin Arlette Kunz, die seit Jahren mit
Ventura arbeitet, erklärt, häufig schon beträchtliche Schwierigkeiten
bietet und manchmal abgeändert werden muss. Die Bewegungsfolgen lassensich
nun kopieren und transformieren, die Reihenfolge kann verändert, die
Sequenz rückwärtsoder, was im Studio besonders schwierig ist,
spiegelverkehrt gesetzt werden. Doch das reicht Pablo Ventura nicht. «Was
ich mit der Maus entwerfe,  ist mein Bild von Tanz, meine eigene
Wunschvorstellung.» Ihn aber interessiert etwas ganz anderes.
Bewegungsabläufe zu finden, auf die er niemals stossen würde und die sich
abheben vom Bild des naturschönen Tanzes. Und so lässt er   den Zufall
walten. Und damit der Zufall auch gar   keine seiner Möglichkeiten
auslässt, gibt Ventura   eben diese vor.


Sechs Tänzerinnen und Tänzer sollen sein  neues Stück tanzen, sechs Figuren
in sechs verschiedenen Farben weist er ihnen zu und kreiertmit der Maus
sechs Bewegungsabläufe. Diese Abläufe lässt er nun per Computer mischen,
indem er die Figuren segmentiert, die Bewegungen des  Oberkörpers der einen
mit jenen des Unterkörpers der andern verbinden lässt. Er löst auch Arm-,
Bein-, Fussbewegungen, verschiebt sie  untereinander, besser: lässt
verschieben. Das Zauberwort heisst «at random» - aufs Geratewohl werden die
Bewegungsphrasen verknüpft. Das   Vorgehen aber ist systematisch: Phrase um
Phrase  wird gespeichert mit dem Ziel, eine möglichst umfangreiche
Bibliothek von Bewegungsphrasen zu haben; ausgetestet werden sämtliche
möglichen   Kombinationen, und so entsteht für jede und   jeden der sechs
Tänzerinnen und Tänzer eine   Choreographie.


Neue Bewegungsformen

Und wo bleiben die Gefühle? «Ich habe eh zu   viel Gefühl», erklärt Pablo
Ventura. Das kann,   wer seine Entwicklung kennt, bestätigen. Vor   einigen
Jahren erstaunte der neu sich in der  Schweiz niederlassende Spanier mit
seinen Umsetzungen von Stoffen aus der Weltliteratur; seine Faust- und
Macbeth-Geschichten waren von  Emotionen überladen und wirkten etwas
altmodisch. Nun hat ihn die Arbeit mit dem Computer auf einen ganz andern
Weg gebracht. Undnicht nur ihn. Während das zeitgenössische Tanzschaffen in
den achtziger Jahren sich durch einen starken Innovationsschub auszeichnete
und da  und dort Gruppen auftauchten mit neuen Bewegungsstilen und
Theaterformen, wurde Innovation in den neunziger Jahren zunehmend
schwieriger. Der New Dance war erfunden, die Abgrenzung vom Tanzschaffen an
den offiziellen Häusern längst vollzogen, die Technik der Tänzer zunehmend
besser . . . Der Griff nach Choreographieprogrammen zur Erforschung neuer
Bewegungsformen lag nahe, zumal Grössen wie Merce Cunningham oder später
William Forsythe, die   beide für ihre unermüdliche Experimentierlust
berühmt sind, vorangingen.


Doch neue Technologien kommen längst auch  auf andern Ebenen der
Tanzkreation zum Einsatz. So samplen sich nicht wenige Choreographinnen und
Choreographen gleich selbst ihreMusik. Und mehr und mehr werden Räume
mittels Computeranimation gestaltet. Im Kommen sind die sogenannten
interaktiven Systeme, dies   zeigte sich Ende letzten Jahres am Monaco
Danses Dances Forum, das Technologiefreaks  und Tanzschaffende aus der
ganzen Welt versammelte und an dem 40 Produktionen gezeigt wurden, die sich
neuer Technologien bedienen. So können die alten Muster umgekehrt werden:
Aus   Tanz wird Musik, Bühnenbild, Licht - mittels   Sensoren und Kameras.
Tanz wird aber auch ins   Internet geschickt, nicht nur zur Promotion von
Kompanien und ihren Produktionen, sondern  auch zur Kreation von
weltumspannenden Tänzen. Die Company in Space aus Australien zeigte eine
Produktion, welche zwei Soli vereinte, das   eine live getanzt im
Grimaldi-Forum vor den   Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer, das
andere ebenfalls live in Melbourne und übertragen via Netz nach Monaco, wo
sich die beiden Tänze auf der Bühne trafen.


Konventioneller arbeitet die Gruppe Troika   Ranch aus den USA. Sie
verteilt Sensoren rund  um die Bühne, die auf die Bewegung der Tanzenden
reagieren und, je nach Geschwindigkeit der Bewegung, Klänge jener vier
Akkorde auslösen,  welche Mark Coniglio, der Komponist und Computertüftler
der Gruppe, vorgegeben hat. Gleichzeitig werden die Bewegungen mit der
Kamera aufgenommen und an die Wand projiziert, wo sie  als Schatten in
einem (vorproduzierten) Film erscheinen. Troika Ranch experimentiert auch
mit Sensoren, Kameras und Mikrophonen, die an den   Körpern der Tänzer
befestigt werden. Über die   Stimme und die Bewegung der Tänzer und
Schauspieler soll sich der Hintergrund verändern,  indem die Bewegung
segmentiert ins Video eingefügt wird.


Die Ballerinen der Audiogruppe aus Berlin   haben sich die Musik aufs Tutu
geschnallt: Die   Tänzerinnen tragen Kostüme mit Mikrophonen,   Empfängern,
Lautsprechern, Lichtsensoren, die   als Kostüm bereits visuelles Ereignis
sind und   gleichzeitig einen Sound liefern, der sich aus den  Bewegungen
der Tänzerinnen sowie der Umgebung speist. Aus Bewegung wird Musik, das
Chaos des Körpers verbindet sich mit der   Maschine. Am Körper befestigte
Sensoren   schränken aber die Bewegungsfreiheit stark ein.   Zudem besteht
die Gefahr, dass der Tanz zum   Zudiener der Technologie wird.


Der Technotanz, der in Monaco gezeigt wurde,   war denn auch von der
Bewegungsqualität her   nicht besonders elaboriert. Doch zeichnet sich
auch hier eine Entwicklung ab. Jean-Marc Matos,  der das Programm «Tanz und
neue Technologien» am Monaco Danses Dances Forum zusammengestellt hat und
die Szene schon seit Jahren beobachtet, ist ob der Vielfalt und
Ernsthaftigkeit,   mit der geforscht wird, überrascht. Nach wie vor  sind
solche Experimente indessen kleinen Gruppen vorbehalten, und ihre
Produktionen sind häufig nicht besonders spektakulär, Installationen  eher
denn grosse Tanzgeschichten. Eine Ausnahme macht auch hier der mittlerweile
82-jährige Merce Cunningham. Für sein Meisterwerk «Biped» von 1999 hat er
mit Motion-Capturing  gearbeitet: Mit der Kamera wurden die Bewegungen der
Tänzerinnen und Tänzer eingefangen undauf virtuelle Figuren übertragen,
die, auf transparente Wände projiziert, die Bewegungen der Tänzer
verdoppeln, ergänzen, kontrapunktieren. Beim Motion-Capturing-Verfahren
werden an   den Körpern, insbesondere den Gelenken der   Tanzenden,
reflektierende Kugeln angebracht.   Mehrere Hochgeschwindigkeitskameras
zeichnen   von verschiedenen Seiten die Bewegungsabläufe   auf; daraus
werden im Computer Polygonskelette  generiert. Ein System, das
Tanzschaffende geradezu herausfordern muss. Indes ist Motion-Capturing sehr
teuer und für die meisten Kompanien kaum erschwinglich.


Fliessende Emotionen

Anders Merce Cunninghams Software Life   Forms. Das Programm ist nicht
besonders teuer   (249 Dollar) und leicht erhältlich. Und es scheint,
dass die Arbeit mit Choreographieprogrammen   die Forschungsarbeit des
Choreographen mehr   vorantreibt als die interaktiven Raumsysteme.   Pablo
Ventura erhofft sich davon eine Abkehr   vom sogenannt normalen Tanz. Und
er verlangt   damit den Tänzerinnen und Tänzern einiges ab.   Jeder und
jede von ihnen lernt ab Bildschirm.   Arlette Kunz merkt sich erst die
verschiedenen   Positionen ihrer Choreographie, überlegt, wie sie   von
einer zur andern findet, was aber dann «zu  normal» sei. Also gilt es, die
Vorschläge des Programms zu verwirklichen - ein schwieriges Unterfangen.
Die Bewegungsabläufe muss Pablo Ventura nun den individuellen
Körpermöglichkeiten der Tanzenden anpassen. In den Raum gesetzt   und
miteinander verknüpft werden die einzelnen   Soli bei den gemeinsamen
Proben im Studio, und   erst hier wird mit Musik gearbeitet. Diese entsteht
unabhängig vom Tanz (ebenfalls am Computer)   und wird nun im Studio mit
ihm verbunden. Und  siehe da: Was am Bildschirm so seltsam anmutete, was
vor dem Bildschirm als ver-rückte Bewegung erschien, erscheint nun als
Tanzstück sehrmenschlich, nicht besonders absurd und keineswegs gefühllos.
«Die Emotionen fliessen durch die einzelnen Tänzerinnen und Tänzer in die
Choreographie», sagt Pablo Ventura, «sie kommen nicht von mir, nicht von
den Phrasen.» Gute Tänzer vermögen ihren Bewegungen individuelle   Farben
und individuellen Ausdruck zu verleihen -   das gilt auch für Bewegungen,
die am Computer   entworfen sind: Auch der Tanz aus der Maschine  ist auf
Menschen angewiesen, die keine Maschinen sind.


Lilo Weber



* www.lifeforms.com




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