Krystian Woznicki on 18 Apr 2001 08:04:28 -0000 |
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[rohrpost] Literatur und Technologiegeschichte |
Hallo, Januar diesen Jahres haben wir uns in der Berliner Gazette [1] mit den neuen Formen und Orten der Literatur im Zeitalter der Telekommunikation im Gadget-Format auseinandergesetzt, waren allerdings weder die Ersten noch die Letzten. Nachdem u.a. Telepolis [2] und netzeitung [3] vom SMS-Literaturwettbewerb >150 Zeichen< berichtet hatten, ist heute in der Sueddeutschen Zeitung [4] ein laengerer Artikel erschienen, der eine historische Perspektive auf den Zusammenhang von Literatur und Medientechnologie eroeffnet. 1. http://www.nettime.org/rohrpost.w3archive/200101/msg00043.html 2. http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/sa/4604/1.html 3. http://www.netzeitung.de/servlets/page?section=724&item=125773 4. http://szonnet.oba.de/REGIS_A12167514 Gruss, Krystian PS: Nachfolgend der aktuelle SZ-Beitrag von Andreas Bernard. --- Das lyrische Gefühl in den Fingerspritzen Gibt es eine Poetologie der 160 Zeichen? Über den Zusammenhang von Literatur und Medientechnologie In einem Internet-Forum, das sich mit dem großen SMS-Literaturwettbewerb des Düsseldorfer Uzzi Verlags auseinander setzt (www.160-zeichen.de), meldete sich kürzlich ein gewisser Zeno Cosini zu Wort. „Aber ist denn die Literatur wirklich schon so auf den Hund gekommen“, gab er zu bedenken, „dass sie sich den Grenzen eines technischen Formats wie selbstverständlich fügen soll! Das hat ja dann nichts mehr mit Literatur tun.“ Diese Befürchtung wird von den überraschend zahlreichen Beiträgern nicht geteilt; bis zum Einsendeschluss am 1. April sind über 7000 Kurzgedichte eingegangen, die Anfang Juni als dreibändige Anthologie veröffentlicht werden. Offenbar hat das Format des Short Message Service doch etwas mit Literatur zu tun, denn nicht nur der Uzzi Verlag ist auf das poetische Potenzial der 160-Zeichen-Texte aufmerksam geworden. Kaum eine Jugendzeitschrift etwa kommt im Moment ohne wöchentliche Prämierung der ergreifendsten Liebesbotschaften per Handy aus, und auch etablierte Schriftsteller nutzen die Gelegenheit – wie im vergangenen Sommer im Rahmen eines Münchner Projekts (www.smservices.de) –, um sich in diesem neuen Format zu versuchen. Die Beschränkung der 160 Zeichen reizt die Autoren, getreu Nietzsches Erkenntnis, dass „unser Schreibzeug (. . .) mit an unserem Gedanken“ arbeitet. Man könnte sogar von einer allgemeinen Wiederbelebung des lyrischen Genres durch den Short Message Service sprechen. In den Wettbewerbs-Beiträgen des Uzzi Verlags und auf den Seiten von smservices.de zeichnen sich jedenfalls die ersten Konturen einer Schreibweise ab, die von Literaturhistorikern kommender Generationen vielleicht einmal den Namen „SMS-Stil“ erhalten wird. Was diesen Stil genau ausmacht, kann man im Moment nur erahnen. Zu jung noch sind die medientechnischen Bedingungen, von denen er geprägt wird (Mannesmann bot zum ersten Mal 1995 den Short Message Service für den netzinternen Gebrauch auf an; seit 1997 zirkulieren die Nachrichten auch zwischen verschiedenen Anbietern). Eine historische Parallele aber ist jetzt schon erkennbar. In ihrer notwendigen Verdichtung der Sprache, in ihrem parataktischen Lakonismus erinnern die 160-Zeichen-Texte deutlich an ein vergessenes Medium, das die Geschichte der Literatur wie kaum ein anderes beeinflusste: die Telegraphie. Am Ende des 19. Jahrhunderts offenbarte sich in der Bezeichnung „Telegrammstil“ - von im- bzw. expressionistischen Lyrikern genauso wie von Friedrich Nietzsche zur Charakterisierung des eigenen Schreibens gebraucht – die untrennbare Verknüpfung von Medientechnologie und Literatur. Dass dieser Begriff nun in den ersten Analysen zur Sprache von SMS- Botschaften wieder auftaucht, ist kein Zufall. Einer kürzlich eingereichten Passauer Diplomarbeit zufolge ist die Eigenheit, dass SMS-Nachrichten zur „Reduktion (. . .) auf Satzebene“ neigen, „weniger der Umgangssprache als vielmehr dem Telegrammstil ähnlich“. Und die darauffolgende Statistik könnte auch aus einem frühen Handbuch der Telegraphie stammen: „Bei ganzen 25% der 312 untersuchten Kurznachrichten fehlt das Subjekt. Dabei wird am häufigsten die 1. Person Singular weggelassen.“ Um die Herausprägung eines literarischen „SMS-Stils“ zu untersuchen, ist es vielleicht wirklich angebracht, einen genaueren Blick auf die Geschichte der Telegraphie zu werfen. Der so genannte Telegrammstil entstand nicht unmittelbar nach der öffentlichen Einführung des neuen Mediums Mitte des 19. Jahrhunderts, denn zunächst luden die tariflichen Bedingungen eher zu einem ausschweifenden Sprachgestus ein. Unabhängig von der tatsächlichen Länge des Schreibens zahlte man eine Pauschale für die ersten zwanzig Wörter, wodurch den Telegraphisten, wie es ein Zeitgenosse formulierte, „die Gewohnheit eigentlich aufoktroyiert wurde, sich bei Telegrammen unnützer Titulaturen, weitschweifiger Höflichkeitsphrasen und überhaupt einer zwecklosen Breite zu befleißigen“. Erst 1876 ging das Deutsche Reich zum Einworttarif über, und der Schreibstil änderte sich über Nacht: Nun zählte jedes Wort; alles schmückende Beiwerk der Sprache, das nicht zum semantischen Kern der Mitteilung gehörte, musste eliminiert werden. Die Telegraphisten wurden mit Übungsbüchern versorgt, um die Kunst der Spracheindampfung zu erlernen: kein unnötiges Pronomen, kein überflüssiger Artikel sollte das Konzentrat der Worte verwässern. Wie fundamental diese medientechnische Entwicklung auch die Schreibweisen der Literatur betraf, hat niemand überzeugender gezeigt als Bernhard Siegert in seinem Buch „Relais“. Am Beispiel der Gedichte August Stramms untersucht er den prominentesten literarischen Effekt des Telegrammstils: expressionistische Lyrik. Deren von den Futuristen formulierte Poetologie – „Das Ich in der Literatur zerstören“; „Die Adjektive vertreiben“ – beherzigte jeder Telegraphist schon zwanzig Jahre zuvor. „Der charakteristische Stil Strammscher Lyrik - Zusammenziehungen von Nomen, Verben und/oder Adjektiven“ ist deshalb, wie Siegert sagt, nicht unbedingt Zeichen jener entgrenzten Weltwahrnehmung, die in Gedichtinterpretationen immer wieder herausgearbeitet wird, sondern erst einmal „nichts als ein Effekt der Worttaxe“. Schließlich machten die Schlupfwinkel des Einworttarifs auch aus jedem gewöhnlichen Telegrammschreiber einen potenziellen expressionistischen Lyriker, wurden sprachliche Konstruktionen wie „starkmusterig“, „ersttätig“ oder „braunblond“ von den Postämtern doch als ein Wort anerkannt. „Der unüberbotene Lakonismus der Gedichte August Stramms“, so Siegert, „befolgt einfach nur die ökonomischen Gesetze, die das Medium Telegraphie dem Diskurs aufgelegt hat“. In der Folge der Gesetzesänderung von 1876 sank daher nicht nur „die Durchschnittslänge eines Telegramms von 18,32 Worten auf 11,9 Worten im Jahre 1881 herab“, sondern es entstanden auch bis zum Äußersten reduzierte lyrische Gebilde Stramms, „die manchmal, wie im Fall von ,Feuer’, nur 8 Worte zählen (und daher nur 40 Pfennig Telegrammgebühr plus 20 Pfennig Grundgebühr gekostet hätten)“. Wenn man sich die Beiträge der SMS-Literaturwettbewerbe ansieht, zeichnet sich fast so etwas wie eine Renaissance expressionistischer Lyrik ab. Drei Beispiele: „IMLAMPENLICHTREGENsiehtertropfenglitzern dann zerplatzen, / siehtseinspiegelbild fallen, lampenlichttropfenfallen auf stumme / strassen, erfälltaufstummestrassen“; „tropfsteinhöhle faktentaumel stimmenschnee“; „sonnenwind sonnenwand sonnwendfeuer sommersprosse sonnenbrand / nacht“. Die These ist nicht besonders waghalsig, dass diese Texte anders aussähen, wären sie nicht mit dem SMS-Format konfrontiert. Offensichtlich fordert das Limit der 160 Zeichen Schreibexperimente heraus, die vom Telegrammstil her vertraut sind, wobei sich die Ökonomie des Short Message Service allerdings in einem Punkt fundamental unterscheidet: Sie erzeugt nicht, wie die Telegraphie am Ende des 19. Jahrhunderts, ein bis dahin ungekanntes Bewusstsein für die Bedeutung des einzelnen Wortes, sondern ein bis dahin ungekanntes Bewusstsein für die Bedeutung des einzelnen Zeichens. Wer außer Magazin-Journalisten hätte noch vor ein paar Jahren seine Texte nach dieser Kategorie berechnet? Nun aber heißt es in dicken Lettern auf der Homepage des Uzzi Verlags: „Ganz wichtig: Das Leerzeichen zählt als Zeichen mit.“ SMS-Lyrik hat keine Lücken. Ihre expressionistische Verdichtung verdankt sich einer anderen medialen Strategie als die der Originale: Nicht jedes unnötige Wort soll vermieden werden, sondern jedes unnötige Zeichen. Wodurch wird er also geprägt, der „SMS-Stil“, der sich, sollten die ersten Anthologien Erfolg haben, vielleicht zu einer eigenen literarischen Gattung entfalten wird? (Strikte formelle Begrenzung, man denke an den Haiku oder das Sonnett, reizen seit jeher die dichterische Produktivität.) Neben der radikalen Limitierung des Formats spielen vielleicht noch zwei Dinge eine entscheidende Rolle: einerseits der Umstand, dass man während des Schreibvorgangs nie den ganzen Text im Display sehen kann, sondern je nach Telefonhersteller nur zwei bis vier Zeilen (was unmittelbare Auswirkungen auf die Überschaubarkeit des Satzbaus hat); andererseits der besondere Aufbau der Tastatur. Mit dem Mobiltelefon tritt in der Geschichte der elektronischen Schreibmedien vermutlich zum ersten Mal der Fall ein, dass die Anordnung der Buchstaben der Häufigkeit des Gebrauchs entgegensteht. Samuel Morse wählte das einfachste Zeichen seines telegraphischen Codes für den meistverwendeten Buchstaben (das E); die Standardtastatur der Schreibmaschine wurde in den jeweiligen Sprachen streng nach der Frequenz des Anschlags konzipiert. Nur das Handy – weil es für zehn Ziffern und nicht für 29 Buchstaben gedacht war – nimmt keine Rücksicht auf einen ökonomischen Gebrauch der Zeichen: J und W sind mit einem einzigen Tastendruck zu haben; ein E beansprucht die doppelte, ein S sogar die vierfache Zeit. Auch wenn die neueren Mobiltelefone mit einer automatischen Worterkennung ausgestattet sind: Diese Anordnung der Buchstaben hat offensichtliche Auswirkungen auf den Sprachgebrauch der Autoren. Eine umfangreiche statistische Untersuchung der Münchner Wettbewerbsbeiträge (die Einsendungen an den Uzzi Verlag durften paradoxerweise nicht per SMS übermittelt werden und sind in dieser Hinsicht wertlos) würde vielleicht ergeben, dass der Buchstabe S in SMS-Botschaften weniger häufig gebraucht wird als in anderen Texten. Das Wissen um den Aufwand, vier Tasten zu drücken, um diesen Zeichen zu erhalten, verleitet die Autoren insgeheim zu einer anderen Wortwahl. Natürlich wären die Erfordernisse beträchtlich, um diese Spekulation zu beweisen. Was hingegen schon ein flüchtiger Blick auf die Beiträge zeigt, ist die Tatsache, dass SMS-Texte nahezu ohne Satzzeichen auskommen. Auch diese stilsitische Besonderheit greift eine Tendenz des Telegrammstils auf, wie der amerikanische Philologe Robert Lincoln O’Brien schon 1904 in seinem Aufsatz „Machinery and English Style“ schrieb: „Nur die offensichtlichsten Pausenzeichen sind verlässlich; folglich erlernen Schreiber, die an diese Übermittlungsmethode gewöhnt sind, Sätze in solche Umrisse zu bringen, dass sie sich selber interpunktieren, und Formen zu vermeiden, deren Sinn durch Vergessen eines Punktes oder durch seine Verwandlung in ein Komma völlig verkehrt werden könnte.“ Das Stakkato der SMS-Gedichte allerdings beruht auf einer anderen Schwierigkeit: Es ist schlichtweg zu aufwendig, bestimmte Satzzeichen einzugeben. Auf dem Panasonic G 600 benötigt man ganze 18 Tastendrucke, um einen Gedankenstrich zu erhalten; auf dem Siemens S 25 immerhin 13 für einen Strichpunkt. Unter diesen Schreibbedingungen müssen bestimmte syntaktische Konstruktionen in Vergessenheit geraten. Adorno beobachtete vor knapp fünfzig Jahren noch sensibel, dass „den Unterschied von Komma und Semikolon (. . .) nur der recht fühlen“ wird, „der das verschiedene Gewicht starker und schwacher Phrasierungen in der musikalischen Form wahrnimmt“. Doch was, wenn zwischen den Zeichen starker und schwacher Phrasierung, wie auf einem Siemens-Handy, plötzlich eine Differenz von elf Tastendrucken liegt? Literarischer Stil: nicht autonome Entscheidung des schreibenden Subjekts, sondern immer auch Sache der medialen Vorgaben. „Aber ist denn die Literatur wirklich schon so auf den Hund gekommen, dass sie sich den Grenzen eines technischen Formats wie selbstverständlich fügen soll!“ Dieser Vorwurf aus der Debatte im Internet verkennt die dynamische Ordnung der Literaturgeschichte, denn womöglich ist eine Gattung wie die Lyrik genau aus dem Grund noch am Leben, weil sie sich immer wieder den Grenzen eines technischen Formats wie selbstverständlich gefügt hat. ANDREAS BERNARD ---------------------------------------------------------- # rohrpost -- deutschsprachige Mailingliste fuer Medien- und Netzkultur # Info: majordomo@mikrolisten.de; msg: info rohrpost # kommerzielle Verwertung nur mit Erlaubnis der AutorInnen # Entsubskribieren: majordomo@mikrolisten.de, msg: unsubscribe rohrpost # Kontakt: owner-rohrpost@mikrolisten.de -- http://www.mikro.org/rohrpost