Reinhold Grether on Thu, 8 Nov 2001 15:50:25 +0100 (CET) |
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[rohrpost] In zehn Jahren sind wir vielleicht alle Muslime. |
[Auf der Konstanzer Konferenz "Vom Laendle zum L@ndle" hielt ich den Vortrag "Das Netz in zehn Jahren: Entwicklungstrends hin zur Netzwerkgesellschaft". Am Rande der Konferenz stellten Doreen Pick und Lutz Hager folgende Fragen:] QP: Was ist revolutionaer an der Digitalisierung? Werden wir in einer anderen Gesellschaft leben? Reinhold: Das heute meist in religiossen Kontexten gebrauchte Wort Oekumene meint urspruenglich das Einbegreifen der gesamten lebenden Kulturmenschheit in eine allgemein verbindliche Weltordnung. In der Menschheitsgeschichte lassen sich zwei oekumenische Zeitalter unterscheiden. Das erste reicht von der chinesischen, der indischen, der persischen, der makedonischen, der roemischen, der islamischen, der abendlaendischen bis zur mongolischen Oekumene. Schon die Bezeichnungen machen klar, dass das jeweilige imperiale Ausgreifen, lange bevor es die gesamte Menschheit umfasste, auf unueberwindliche Grenzen stiess, hinter der es nur noch Barbaren gab. Die alten Imperialismen waren von Politischen Theologien motiviert, die wiederum auf Hochprofessionalisierungen der menschlichen Psyche beruhten. Der Vulkanismus des Spiritualismus und seine Domestizierung zu Religionen, Philosophien und Wissenschaften scheint mir der produktive Kern der alten Oekumenen. Seit fuenfhundert Jahren leben wir in einem zweiten oekumenischen Zeitalter, das derzeit vom imperialen Ausgreifen der Vereinigten Staaten gepraegt ist. Interessanterweise macht sich die neue Oekumene immer mehr von spirituellen Bindungen frei, was auf entschiedenen Widerstand von politischen Theologen der alten Oekumenen stoesst. Zieht man oeffentlichkeitsbestimmte Verbraemungen ab, geht es im zweiten oekumenischen Zeitalter um die Verfuegbarmachung aller Codes, seien diese physikalisch, biologisch, informationell oder sozial, um sie als Zweite Genesis zu rekonfigurieren. Man klappt die vertikal gepraegte Welt gewissermassen in die Horizontale und interessiert sich statt fuer Hierarchien des Spirituellen fuer Netzwerke von Prozessen. Deshalb spreche ich von einer "Weltrevolution der Netze", von der das Digitale nur ein Moment ist. Das Digitale ist der Geburtshelfer, der neue Formen des Analogen zur Welt bringt. QP: Reinhold, Du bezeichnest Dich als Netzwissenschaftler. Was ist das und wie hilft Netzwissenschaft die Zukunft der Digitalisierung zu verstehen? Reinhold: Netzwissenschaft ist einerseits Wissenschaft der Netze und andererseits Metawissenschaft des Netzwissens. In einem ersten Schritt geht es darum, personell vorliegendes und institutionell erarbeitetes Netzwissen auf einer Plattform zusammenziehen, um es in einem zweiten Schritt systematisch darzustellen. Greifen wir als ein Beispiel fuer Netze das Internet heraus, so zeigt die Untersuchung der bislang vorliegenden Internetforschung eine informatisch bzw. medienwissenschaftlich bzw. sozialwissenschaftlich orientierte Verengung des Forschungsgegenstands auf technische bzw. semiotische bzw. soziale Netzwerke, obgleich erst deren Zusammenwirken das Internet ausmacht. Auf der Internetplattform netzwissenschaft.de ziehe ich die das Internet betreffenden Einzelforschungen zusammen und spiegle die wissenschaftliche Selbstbeschreibung des Internets in seinen Forschungskontext zurueck. Wer die Interrelationen der auf netzwissenschaft.de zugaenglichen Einzelforschungen rekonstruiert, bricht auf der Metaebene zu genuin netzwissenschaftlichen Fragestellungen auf. Das am Internet gewonnene Wissen mag dann auch bei Untersuchungen anderer Netze hilfreich sein. QP: Reinhold, Du bekommst am Tag bis zu 700 emails; auf Deiner Netzwissenschaft-Seite hast Du 7000 Links. Grenzt das nicht an Kommunikationsterror? Kann man im Netz ueberleben? Reinhold: In den alten Oekumenen fiel die Singularitaet Gottes ins Denken ein, in den neuen sind es, notabene, Schwaerme von emails. Als Zwischenwesen zweier Oekumenen kriegen wir es sowohl von oben als auch von der Seite. Seit alters entwickeln Menschen Talente, um mit entsprechenden Zumutungen umzugehen. Bei mir sind das ein paar hundert Mailfilter. Das meiste laeuft in Ordner, die ich nur fluechtig durchsehen muss, weil sich darin mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit kaum netzwissenschaftlich relevante Informationen befinden. Der Rest ist zwar Arbeit, aber solche, die die Augen oeffnet. Das alles wuesste ich ohne die Schwaerme nicht. Die Mailroutine verbindet mich mit meinem Gegenstand. Bezahlt wird mit Blickverengung, da ich anderweitig Interessantes uebergehe. QP: Reinhold, du hast in deinem Vortrag gesagt, dass wir uns "neu konfigurieren" muessen. Hat der Mensch der Technik zu folgen, frei nach dem Motto: Fragt nicht was die Technik fuer den Menschen tun kann, sondern der Mensch fuer die Technik? Reinhold: Im ersten oekumenischen Zeitalter, als es um die Hochprofessionalisierung der Psyche ging, konnte sich "der Mensch" als bevorzugte Adresse empfinden. Im zweiten oekumenischen Zeitalter wird buchstaeblich alles zur Adresse, alle Elektronen, Basen, Pixel Orte. Je genauer man die intelligenten Prozesse der physikalischen, biologischen, informationellen und sozialen Netzwerke erfasst, desto weniger Spielraum bleibt fuer die Ueberhoehung personaler Intelligenz. Bewusstsein als deren Erlebensinstanz ist ja wahrscheinlich ein selbstadressables Interface des Gehirns. Solche selbstadressablen Interfaces duerften sich auch fuer andere Intelligenzformen konstruieren lassen, was Distiktiongewinne aus Bewusstsein weiter schmaelert. Gegen eine gewisse Folklore des Menschen ist freilich wenig einzuwenden. Der Elferrat der Ethikkommissionen lebe hoch. QP: Microsoft gegen Open Source. Setzt Microsoft Standards, die das Leben mit Internet&Co. erleichtern oder werden wir und damit unser Leben durch Microsoft standardisiert und gelenkt, wie einige der Seminarteilnehmer befuerchteten? Reinhold: Souveraen des zweiten oekumenischen Zeitalters ist, wer den Code beherrscht. Das sind die Herren der Welt. Fuer den Rest gibt es traditionell Zirkus. Diesmal in einer personalisierten Abmischung aus Hollywood, Disney, TV, AOL und Internet. Schulen ans Netz war ein reines Arenaprojekt. Ueber Code hat es den Kids nichts beigebracht. Open Source ist demgegenueber code- nicht zirkusorientiert. Weltweite selbstorganisierte Entwicklergemeinschaften, z.B. um das Betriebssystem Linux herum, erklaeren offengelegten Code in einer Lizenz aus Veraenderungsrechten und Weitergabepflichten zum oeffentlichen Gut. Im oeffentlichen Sektor sollte mit offener Software gearbeitet werden, sofern nicht fuer jeden Einzelfall gerichtsfest nachgewiesen werden kann, dass proprietaere Software die Aufgabe besser meistert. Wem an offenen Gesellschaften gelegen ist, mache Code zum Schulfach. QP: Zum Abschluss: Die digitale Revolution, ist sie schon da, wird sie noch kommen? Wie sieht das Netz in 10 Jahren aus? Reinhold: Revolutionen finden statt, wenn jeder das Gegenteil behauptet. Dass heute alle, einschliesslich frueherer Lobredner, auf dem Internet herumhacken, gibt zum Optimismus Anlass. Allerdings unternimmt die von bin Laden ueber Busch zu Schily reichende Weltkoalition der Feinde der Freiheit derzeit alles, um die bescheidenen Artikulationsmoeglichkeiten des Internets zu beschneiden. Dem neuen Totalitarismus steht eine weltumspannende Ueberwachungstechnologie zur Verfuegung, die, wie man am rekonstruierten Tagesablauf der WTC-Attentaeter sehen konnte, saemtliche Lebensvollzuege erfasst. Eine gigantische Rechteindustrie legt sich zudem als Alb ueber saemtliche analogen und digitalen Routinen, um sie abgabenpflichtig zu machen oder ganz zu unterbinden. Die Hauptgefahr fuer die Zivilgesellschaften des Westens besteht in der Zerstoerung ihrer Innovationsnetzwerke. Das Roemische Reich liess die auf die Neuzeit vorausweisenden wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht zum Zug kommen und hatte folglich der Entfeindungstheologie des Christentums nichts entgegenzusetzen. In zehn Jahren sind wir vielleicht alle Muslime. ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste fuer Medien- und Netzkultur Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost Info: http://www.mikro.org/rohrpost Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de