Rosanne Altstatt on Wed, 14 May 2003 11:15:31 +0200 (CEST) |
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[rohrpost] Interview mit Avi Mograbi (Teil 1) |
Rosanne Altstatt im Gespräch mit Avi Mograbi Dieses Interview mit dem israelischen Filmemacher, Künstler und Aktivisten Avi Mograbi wurde für die retrospektive Ausstellung seiner Arbeit im Edith-Ruß-Haus für Medienkunst in Oldenburg, Deutschland, geführt. Es erscheint bei Revolver – Archiv für aktuelle Kunst als Teil des Readers “Avi Mograbi: (fictional) Documentary” zum Eröffnungsfilmfest am 16. Mai 2003. www.edith-russ-haus.de Rosanne Altstatt: Zunächst wäre es hilfreich, wenn du mir ein wenig über deinen Hintergrund als Künstler und Filmemacher erzählen würdest. Avi Mograbi: Ich bin in eine Kinofamilie hineingeboren worden. Mein Vater besaß eines der größten Kinos im Zentrum von Tel Aviv, „The Mograbi Cinema“. Als es im Jahr 1930 aufmachte, war es das dritte in Tel Aviv, spielte als erstes Tonfilme und war (auch wegen seiner Architektur) ein Wahrzeichen in der Stadt, bis es vor mittlerweile über 15 Jahren abbrannte. Dort habe ich mir also die Krankheit zugezogen. Als Kind sah ich eine unglaubliche Anzahl von Filmen, viele davon mit meinem Vater in den privaten Vorführräumen, wo er sich auf der Suche nach dem nächsten Kinohit tagelang einen Film nach dem anderen anschaute. Als Heranwachsender war ich mir sicher, dass ich Filmregisseur werden würde, und träumte von einem Filmstudium, aber als es ernst wurde, entschloss ich mich, an der Universität Philosophie und in einer Akademie Kunst zu studieren. Ich war in meinem Kunststudium recht erfolgreich und dachte, ich würde Künstler. Also mietete ich nach dem Abschluss als erstes ein Atelier, und sobald ich das getan hatte, hörte ich mit der Kunst auf. Ich verdiente meinen Lebensunterhalt als Produktionsassistent in Filmteams, später wurde ich Aufnahmeleiter und Regieassistent (womit ich noch immer meinen Lebensunterhalt verdiene) und habe 1989 meinen ersten Film, „Deportation“, gedreht. RA: Ich würde sagen, du bist in einer Kreisbewegung zur Kunst zurückgekommen, aber darüber können wir später weiterreden. Würdest du dich auch als politischen Aktivisten bezeichnen? Schließlich hast du den Artikel „Isoliert Ariel Sharon jetzt“ in den Zeitungen veröffentlicht und zur demokratischen Entmachtung Sharons aufgerufen. AM: Ich bin Aktivist, aber kein besonders ausgewiesener. Ich zähle zur Fußtruppe der israelischen Protestbewegung. In den achtziger Jahren habe ich mich sehr in der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer „Yesh Gvul“ eingesetzt, zu deren Gründungsmitgliedern ich gehörte. Über ein Jahr lang war ich Sprecher der Bewegung und kam wegen meiner Dienstverweigerung im Libanonkrieg ins Militärgefängnis. Im vergangenen Jahr habe ich mich an den Aktivitäten von Ta’ayush beteiligt. Ta’ayush ist eine arabisch-jüdische Organisation, die sich um den Dialog und gemeinsame gewaltfreie Aktionen von Israelis und Palästinensern bemüht und humanitäre Unterstützung sowohl in den besetzten Gebieten als auch in Israel leistet. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, unsere Samstagen an irgendeiner blöden Straßensperre an der Grenze zu den besetzten Gebieten stecken zu bleiben und uns mit Polizisten und Militärs herumzustreiten, die den Bereich für gewöhnlich zur „militärischen Sperrzone“ erklären, nur um uns Friedensaktivisten zweier Nationen, die wir wirklich an den Dialog glauben, den Zutritt zur anderen Seite zu verwehren, wo eine andere Gruppe von Friedensaktivisten sich mit uns treffen möchte. In den vergangenen 16 Monaten habe ich gemeinsam mit dem Filmproduzenten Osnat Trabelsi das Programm für eine monatliche Vorführungsreihe palästinensischer Filme in der Tel Aviv Cinematheque geplant. Alles begann damit, dass wir im November 2001 gegen die Bombardierung der Antenne des Radiosenders „Voice of Palestine“ in Ramalla durch das israelische Militär protestierten, indem wir den Film „This is the Voice of Palestine“ des palästinensischen Filmemachers Rashid Masharawi zeigten. Ein paar Wochen später war die Station völlig zerstört. Wir betrachten diese Reihe als Trojanisches Pferd, das wir ins Innere der israelischen Gesellschaft einschleusen, in der es nur sehr wenige interessiert, welche Menschen auf der anderen Seite leben, was sie denken und anstreben und was mit ihnen passiert. Heute bekommt die israelische Öffentlichkeit Palästinenser nur noch in Nachrichtensendungen zu sehen, die zum öffentlichen Verlautbarungsorgan der Regierungsstimme geworden sind. Wir möchten das Publikum mit einer anderen Sicht der Palästinenser bekannt machen – ihrer Sicht auf sich selbst. Erfolgreich ist unsere Reihe nicht. Die Besucherzahl schwankt zwischen fünfzig und dreihundert, aber das Programm steht, und wir hoffen auf weiteren Zuwachs. Macht das einen politischen Aktivisten aus mir? RA: Ich weiß nicht, ob es eine amtliche Definition des politischen Aktivisten gibt, aber wenn ja, gehe ich davon aus, dass sie sich ständig weiterentwickelt. Schließlich gibt es ja verschiedene Möglichkeiten, aktiv zu sein. Dein Privatleben (jedenfalls das vor der Kamera) und dein Arbeitsleben (hinter der Kamera) miteinander zu verbinden, ist eine davon. Ich kenne viele Künstler, die politische Fragen zum Thema ihrer Arbeit machen und auf die Straße gehen. Deine Arbeit ist dafür das nächstliegende Beispiel. Selbst dein erster Film, „Deportation“, war eine Art Protest, auch wenn er eigentlich weniger nach dem aussieht, was im Titel steht, sondern eher nach einem Austausch von Spionen auf einer Brücke in einem Film, der im Kalten Krieg spielt. Ja, ich habe mir alle Mühe gegeben, die in dem Film dargestellte Deportationsszene völlig anders erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit aussieht. Während der ersten Intifada hat die Armee viele Deportationen durchgeführt – außer Landes verbracht wurden palästinensische politische Führer, bei denen der Staatsmacht klar war, dass kein Gericht sie für ihre Aktivitäten verurteilen würde. Anstatt sie einzusperren, warf man sie deshalb aus dem Land. Immer wenn eine solche Szene in den Fernsehnachrichten kam, wirkte sie sehr brutal. Menschen wurden aus Fahrzeugen gestoßen, man stülpte ihnen Säcke über den Kopf, die Soldaten trieben, ja warfen sie förmlich auf die andere Seite der Grenze, wo sie dann ein äußerst lautstarker Unterstützertrupp mit Fahnen und Beifall erwartete. Nach meinem Gefühl hatte man um mich herum gegen diese Praxis hauptsächlich wegen ihrer Brutalität Vorbehalte. Ich beschloss, sie ganz anders darzustellen, als sie sich in Wirklichkeit abspielte, um die scheinheiligen Reaktionen auszuschalten und eine moralische Diskussion über die Praxis selbst anzustoßen, die man im Gang der Ereignisse ganz aus dem Blick verloren hatte. Irgendwie mag ich es, wie die beiden Typen auf dem Damm (vorgebliche UN-Funktionäre) dem Ereignis eine Kalter-Krieg-Atmosphäre geben, wie sie einander und zugleich Gangstern ähneln. Ich war sehr zufrieden mit der Entscheidung, die vermeintlich neutrale Partei in dieser Szene am fiesesten aussehen zu lassen. RA: Wie gesagt, bin ich davon überzeugt, dass du die Kunst eigentlich nie verlassen hast. Deine Video-Installation „Relief“ (1999), die wir im oberen Saal unseres Ausstellungsraums zeigen, passt nicht gerade in ein Kino. Sie ist weniger ein Film als vielmehr eine Arbeit für einen Ausstellungsraum. Die Aufnahme fasziniert aus mehreren Gründen. Erstens zeigt sie in Zeitlupe einen Moment eines Zusammenstoßes an der Frontlinie zwischen palästinensischen Menschenmassen und einer Aufstellung der israelischen Polizei, komplett mit Schutzschilden und Helmen. Dass diese Szenerie heute für viele politische Bewegungen auf der ganzen Welt zu den gängigen Erfahrungen zählt, macht sie zu einem Inbild der Zeiten, in denen wir leben. Zweitens handelt es sich zwar um eine Menschenmenge, aber wenn wir genauer hinschauen und Einzelne herauspicken, erkennen wir, dass die Protestierenden zu einem Gutteil Journalisten sein könnten, da sie Kameras in der Hand halten – oder aber es sind Demonstranten mit Kameras. Wahrscheinlich spielen sie mehrere Rollen, denn vieles von dem Material, das wir heute in aktuellen Berichten sehen, stammt nicht von professionellen Kameraleuten, sondern von Augenzeugen. AM: Ich nehme an, ein paar der Menschen mit Kameras auf dieser Demonstration waren schon Protestierende. Zu unseren Aufgaben gehört heute auch, das Verhalten von Militär und Polizei bei den Demonstrationen aufzuzeichnen, an denen wir teilnehmen. Wir tun dies, weil die Presse uns im Stich gelassen hat und Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten sie nicht mehr interessieren. Daher sind bei jeder Ta’ayush-Aktivität – das kann eine Demonstration sein, ein Treffen mit den Aktivisten von der palästinensischen Seite oder eine humanitäre Aktion – ein paar Kameras zur Hand. Die Behörden versuchen uns an der Erreichung unserer harmlosesten Ziele zu hindern, also filmen wir sie immer wieder dabei. Aber die Kundgebung in „Relief“ war keine gewöhnliche Demonstration. Sie wurde am Nakba-Tag 1998 (dem 50. Jahrestag der palästinensischen Katastrophe) in Ost-Jerusalem aufgenommen. Die Palästinenser versammelten sich in einer Straße unweit des Zentrums mit der Absicht, um zwölf Uhr mittags in Erinnerung an ihren Verlust zwei Minuten stillzustehen, so wie viele Palästinenser überall in den besetzten Gebieten und auch in Israel es taten und wir (die jüdischen Israelis) es an unserem Gedenktag tun. Die Polizei war auch deshalb gekommen, um diesen Akt des Gedenkens und der Solidarität zu unterbinden. Was man auf dem Video sieht, ist der ruhige Teil der Kundgebung. Später artete sie dahingehend aus, dass berittene Polizisten in die Menge stürmten, von der einen Seite mit Steinen geworfen, von der anderen Gummiprojektile (mit Gummi ummantelte Stahlkugeln, die töten können und es auch taten) geschossen wurden, usw. Ich drehte dort gerade für „Happy Birthday Mr. Mograbi“, und die Szene ging mir Monate lang durch den Kopf, bis ich mir das Band griff und noch einmal ansah. Ich musste es langsamer laufen lassen, damit ich es anschauen konnte. Man kann es unmöglich in Normalgeschwindigkeit sehen, ohne seekrank zu werden. Später fiel mir auf, dass sich die Aufnahme umgekehrt abspielen lässt, ohne dass es wie Rückwärtsbewegungen wirkt, einfach weil keiner dort vom Fleck kam. Es war wie ein Weizenfeld im Wind: jede Menge Wirbel, aber der Weizen wurzelt fest im Boden. Angesichts dieser Situation unaufhörlichen Aufeinanderprallens, in der keine Seite gewinnen konnte, entstand die Idee, die Aufnahme in eine Endlosschleife umzusetzen. RA: „How I Learned to Overcome my Fear and Love Arik Sharon“ (1997), „Happy Birthday Mr. Mograbi“ (1999) und „August“ (2002) sind im Dokumentarstil gehalten, biographisch und fiktional – alles in einem. Aber der Film, der diesen dreien vorausging, „The Reconstruction“, folgte einer streng recherchierten, objektiven Dokumentarlinie. Was hat dich veranlasst, von der Objektivität weg und hin zu völlig subjektiven Standpunkten zu kommen? AM: Ich glaube, das alles entstand ganz intuitiv. An einem bestimmten Zeitpunkt habe ich bei der Herstellung von „Sharon“ gemerkt, dass die „objektiven“ Szenen, die ich aufgenommen hatte, meine Gedanken aus sich heraus nicht darstellen konnten. Da es wenig wahrscheinlich war, dass die Realität die Geschichte freiwillig so „erzählen“ würde, wie ich sie sah, wurde mir klar, dass ich selber es tun musste. Ich brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass durchweg alle so arbeiten, dass auch „The Reconstruction“ so entstanden war und darin die wahre Bedeutung besteht, einen (Spiel- oder Dokumentar-) Film zu machen oder eine Geschichte zu erzählen. Nicht jedem gefällt es, sich auf diesen Prozess einzulassen oder zu seinem Ausgang zu bekennen, aber so objektiv ein Film auch erscheinen mag (und „The Reconstruction“ gibt vor, objektiv zu sein, selbst wenn die darin erzählte Geschichte anders dargestellt wird und eine andere Bedeutung hervorbringen könnte), er ist immer Endprodukt eines intensiven Destruktions- und Rekonstruktionsprozesses, der sich im Kopf des Filmemachers abspielt. Ein Dokumentarfilm ist nie wirklich eingefangene Realität, sondern eher Ausdruck dessen, was nach Auffassung seines Regisseurs Realität sein könnte. Erst sehr viel später wurde mir noch etwas über meine Beweggründe bewusst. So wie ich ihr begegne, liegt Realität nie als solche vor, sondern immer von einem Dritten auf eine Weise dargestellt, die er für richtig hält (und ich spreche nicht unbedingt über Dokumentarfilme). Dort draußen gibt es viele Kräfte, die ständig die Realität für uns interpretieren, sodass die Bedeutung von Realität ein Werkzeug in ihren Händen geworden ist, um ihre Agenda zu propagieren. Mich enttäuschen diese Interpretationen oft, und ich merke, dass die Realität anders dargestellt werden sollte, und zwar auf eine Weise, die der Erkenntnis ihres Gleitens und ihrer Ungreifbarkeit besser gerecht wird. Filme zu machen, hat es mir ermöglicht, dazu beizutragen. Für ca. neunzig Minuten beziehe ich Stellung und teile allen, die mir Aufmerksamkeit schenken möchten, meine eigene Erklärung der Welt mit – über den Zeitraum, den das Publikum als meine „Wirklichkeit“ erfahren kann. Ich hoffe, das wird nicht als Wunsch verstanden, die reale Substanz der Realität zu verzerren: Nein, ich achte sehr darauf, nicht mit der Weltgeschichte herumzuspielen. Ich versuche nur, meinen Bericht zu liefern. RA: In „August“ spielst du alle drei großen Rollen des Films selbst. Wie beeinflusst das deine Rolle als Filmemacher? AM: Ich glaube, als erstes und wichtigstes erwarte ich vom Publikum, die Filmfiguren von ihrer Aussage für denjenigen zu unterscheiden, der den Film macht. Unter Umständen lügen die Protagonisten in Dokumentarfilmen, doch heißt das nicht zwangsläufig, dass der Film nicht ein Stück Wahrheit liefert oder der Filmemacher ein Schwindler ist. Es stimmt, dass diese Unterscheidung bei mir ein wenig schwer fallen könnte, weil ich in einigen meiner Filme die Hauptfigur spiele. Wie jede Figur in jedem anderen Film, dokumentarisch oder nicht, hat meine Figur aber ihre Gründe, das zu sagen, was sie sagt. Wie bei vielen Figuren, die nicht unbedingt Regisseur der Dokumentarfilme sind, in denen sie auftreten, mag der Wahrheitswert dessen, was meine Figur über ihre Geschichte berichtet, zweifelhaft sein. Meiner Ansicht nach lautet die Frage jedoch nicht, ob die Figur die Wahrheit sagt, sondern ob derjenige, der den Film macht, die Wahrheit sagt, das heißt seine eigene, aufrichtige Aussage über die Realität trifft. Wenn ein Regisseur in seinem Dokumentarfilm eine Sterbeszene mit einer Aufnahme unterschneidet, in der von außen Regen auf ein Fenster tropft (was bereits ein Klischee tiefer Trauer geworden ist, eine Metapher, die die Natur an menschlichen Gefühlen Anteil nehmen lässt und in der Tat, soweit ich sie kenne, der Natur ein unwahrscheinliches Verhalten unterstellt), unternimmt er eine Fiktionalisierung „der Wahrheit“. Und trotzdem kann der Filmemacher nicht anders. So ist seine Art, Realität wiederzugeben und uns zu zeigen, welch großes Leid der Tod ist: Sogar der Himmel weint mit den Eltern des Kindes. Wir als Betrachter fühlen uns bei diesem Klischee vielleicht unangenehm berührt, halten es für Kitsch, überholt, überzogen, aber ich bezweifle, dass wir in einem Gespräch darüber den Dokumentaristen verurteilen und behaupten würden, er sage nicht die Wahrheit oder verzerre die Realität. Denn es handelt sich um eine Erzählkonvention, auch in dokumentarischer Erzählung. Womöglich sagt dieser vom Klischee infizierte Filmemacher mit seiner Metapher vom weinenden Himmel die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, weil sie so seiner Wahrnehmung entspricht. Was mich betrifft: Indem ich meiner Figur falsche Geschichten in den Mund lege, hoffe ich metaphorisch zu vermitteln, wie Wirklichkeit wahrgenommen werden sollte und meinem Publikum Gelegenheit zur Auseinandersetzung mit einer umfassenderen Wahrheit, so wie ich sie sehe, zu geben. Vermutlich ist es heute trivial, darauf hinzuweisen, dass es keine Wahrheit oder Wirklichkeit gibt ohne jemanden, der sie erfasst oder wahrnimmt. Wenn wir über ein Thema, in dem wir keine Experten sind, einen Film (gleich ob Spiel- oder Nicht-Spielfilm) sehen, ein Buch, eine Zeitung oder eine historische Untersuchung lesen und wir keine direkten Erkenntnismittel darüber haben, ob die dargestellte Geschichte mit der „Realität“ übereinstimmt, beurteilen wir den Wahrheitswert dieser Schilderungen letztlich danach, wie integer der Berichterstatter wirkt. Für manche mag sich auf diesen Integritätsfaktor niederschlagen, dass eine Hauptfigur in einem Film unwahre Geschichten über sich und seine Familie erzählt. Die sollten dann aber auch die Möglichkeit ins Auge fassen, dass tropfender Regen in einer Sterbeszene die Integrität des verantwortlichen Filmemachers betrifft, denn beides sind einander gleichgeordnete Beispiele ein- und derselben Erzähltechnik. Allerdings durchdringt das eine glatt die Unaufmerksamkeit des Publikums, während das andere sich der Kritik aussetzt. RA: Wie du sagtest, steht noch eine weitere Frage zur Debatte, nämlich nach dem Subjekt der erzählten Geschichte und danach, inwieweit eine im Rahmen der „großen“ Geschichte erzählte unwahre Geschichte sich auf den Film insgesamt niederschlagen kann. AM: Ja, zum Beispiel hat die Frage, ob ich mich in meinem Film wirklich in Herrn Sharon verliebt habe oder nicht, nichts mit der „Tatsache“ zu tun, dass Herr Sharon in Israel nicht nach seinen Taten und seiner Ideologie beurteilt wird. Und davon handelt mein Film. Der Film handelt nicht davon, was in einem Haushalt in Tel Aviv passiert, sondern davon, was in den Köpfen der Israelis passiert, wenn sie der politischen Person Sharon begegnen. Und leider wird, wie mein Film darzustellen versucht hat, Herr Sharon im heutigen Israel nicht nach seiner Ethik, sondern eher nach anderem beurteilt. So hat sich die fiktive Geschichte, die ich in dem Film über mich selbst erzählt habe, als nicht-fiktive Geschichte des Staates Israel bei den Wahlen 2001 und mehr noch den Wahlen 2003 erwiesen. In diesem Sinn ist der Film, den ich fünf Jahre vor Herrn Sharons Machtantritt gedreht habe, unfreiwillig zu einem zukünftigen Dokumentarfilm geworden. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ich hätte nichts für Wahrheit oder Wahrheitsaussage übrig. Ich habe entschieden Angst davor, dass die Freiheit, die ich mir genommen habe, dazu benutzt werden könnte, Fiktion mit Nicht-Fiktion zu vermengen und ein verzerrtes Bild der Welt, der Weltgeschichte und der menschlichen Werte zu erzeugen. Das ist durch Propaganda aller Art und Provenienz in der Vergangenheit ausgiebig geschehen und geschieht wahrscheinlich noch immer. Ich glaube, wir müssen unsere „Integriäts-Sensoren“ in Alarmbereitschaft versetzen und diejenigen auszusieben versuchen, die uns in ihrer Wirklichkeitsinterpretation irreführen. Möglicherweise können wir die eine oder andere Fälschung nicht dingfest machen, aber ich fürchte, wir haben kein anderes Werkzeug als dieses. RA: In letzter Zeit haben einige – insbesondere osteuropäischen – Künstler ihre persönliche Biographie in eine Arbeit dokumentarischen Stils eingeflochten. Durch völlig subjektives Herangehen und Untersuchungen von Problemfeldern, die im rein faktisch orientierten Dokumentarfilm nicht möglich sind, treten einige unbequeme Fragen hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Persönlichen und dem Politischen zutage. Es gibt kaum etwas Persönlicheres und Politischeres als die Sicht eines Israelis auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. In „Happy Birthday“ hast du sogar die Geburt Israels mit deiner eigenen Geburt verknüpft. AM: In unserer Gesellschaft fällt sehr schnell auf, wie sehr das öffentliche Leben das private in Beschlag nimmt. Wo man hingeht, was man tut, ist stark beeinflusst von dem, was wir „die Situation“ nennen. Dem kann man sich einfach nicht entziehen. Manche suchen sich ein Ausweichventil und wollen von den politischen Aspekten des Lebens nicht betroffen sein, bis das Leben ihnen diese Beteiligung aufzwingt. Als politisch engagierter Mensch sehe ich eine starke Beziehung oder Entsprechung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Leben, zwischen den Moralvorstellungen einer Gemeinschaft und den Moralvorstellungen des Einzelnen. Zum Beispiel – und diese Diskussion führe ich mit vielen Freunden, die angeblich ebenfalls humane Ideen verpflichtet sind – glaube ich Folgendes: Wenn man die Auffassung vertritt, dass die Besetzung beendet werden sollte und die Siedlungen in den besetzten Gebieten für unsere Gesellschaft eine Katastrophe bedeuten (im Grunde sind sie Kriegsverbrechen), muss man im eigenen Privatleben etwas daran tun, auch wenn die politische Wirkung minimal ist. So kann man es etwa unterlassen, Produkte zu kaufen, die in den besetzten Gebieten (von Israelis) hergestellt wurden. Wenn ich etwas kaufe, versuche ich herauszubekommen, wo es erzeugt wurde, und vermeide es, Erzeugnisse von Siedlern zu kaufen, genauso wie ich es in den Zeiten der Apartheid mit in Südafrika hergestellten Produkten gehalten habe. Viele meiner Freunde, die sich selbst als Menschenrechtsverfechter betrachten, halten das für reichlich übertrieben. Ich nicht. Ich glaube daran, nach den eigenen Idealen und Moralvorstellungen zu leben. Vor etwa 16 Jahren beschloss ich, nicht mehr in die besetzten Gebiete zu fahren. Diese Entscheidung hat mich eine Menge Geld gekostet (ich musste viele Jobs ablehnen, die mit Filmarbeiten in den besetzten Gebieten zu tun hatten), und ich machte mir einen Namen als Störenfried, als einer, der gegenüber einfachen Alltagsvorgängen zu viele Skrupel an den Tag legt. Erst vor sieben Jahren habe ich die besetzten Gebiete wieder zu betreten begonnen, aber nur dann, wenn der Anlass mit dem Ziel in Zusammenhang steht, der Besetzung ein Ende zu machen (und ich meine, dass meine Beziehungen zu palästinensischen Freunden diesem Ziel dienen). Wenn ich mir die Filmemacherjacke anziehe, finde ich es völlig natürlich, das Private mit dem Öffentlichen zu verbinden, und als ich bei der Entstehung des Sharon-Films merkte, dass ich selber darin auftreten musste, um die Geschichte, die mir nachging, erzählen zu können, habe ich es einfach getan. Als später einige glaubten, meine Ehe sei durch das Drehen des Films in die Brüche gegangen (denn das schildert der Film), nahm ich es leicht und machte daraus den Ausgangspunkt zu einer politischen Auseinandersetzung. Teil 2 folgt -- +++ GMX - Mail, Messaging & more http://www.gmx.net +++ Bitte lächeln! 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