Rosanne Altstatt on Wed, 14 May 2003 11:15:31 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Interview mit Avi Mograbi (Teil 1)


Rosanne Altstatt im Gespräch mit Avi Mograbi

Dieses Interview mit dem israelischen Filmemacher, Künstler und Aktivisten
Avi Mograbi wurde für die retrospektive Ausstellung seiner Arbeit im
Edith-Ruß-Haus für Medienkunst in Oldenburg, Deutschland, geführt. Es erscheint bei
Revolver – Archiv für aktuelle Kunst als Teil des Readers “Avi Mograbi:
(fictional) Documentary” zum Eröffnungsfilmfest am 16. Mai 2003.
www.edith-russ-haus.de


Rosanne Altstatt: Zunächst wäre es hilfreich, wenn du mir ein wenig über
deinen Hintergrund als Künstler und Filmemacher erzählen würdest.

Avi Mograbi: Ich bin in eine Kinofamilie hineingeboren worden. Mein Vater
besaß eines der größten Kinos im Zentrum von Tel Aviv, „The Mograbi Cinema“.
Als es im Jahr 1930 aufmachte, war es das dritte in Tel Aviv, spielte als
erstes Tonfilme und war (auch wegen seiner Architektur) ein Wahrzeichen in der
Stadt, bis es vor mittlerweile über 15 Jahren abbrannte. Dort habe ich mir also
die Krankheit zugezogen. Als Kind sah ich eine unglaubliche Anzahl von
Filmen, viele davon mit meinem Vater in den privaten Vorführräumen, wo er sich auf
der Suche nach dem nächsten Kinohit tagelang einen Film nach dem anderen
anschaute.
Als Heranwachsender war ich mir sicher, dass ich Filmregisseur werden würde,
und träumte von einem Filmstudium, aber als es ernst wurde, entschloss ich
mich, an der Universität Philosophie und in einer Akademie Kunst zu studieren.
Ich war in meinem Kunststudium recht erfolgreich und dachte, ich würde
Künstler. Also mietete ich nach dem Abschluss als erstes ein Atelier, und sobald
ich das getan hatte, hörte ich mit der Kunst auf. Ich verdiente meinen
Lebensunterhalt als Produktionsassistent in Filmteams, später wurde ich
Aufnahmeleiter und Regieassistent (womit ich noch immer meinen Lebensunterhalt verdiene)
und habe 1989 meinen ersten Film, „Deportation“, gedreht.

RA: Ich würde sagen, du bist in einer Kreisbewegung zur Kunst
zurückgekommen, aber darüber können wir später weiterreden. Würdest du dich auch als
politischen Aktivisten bezeichnen? Schließlich hast du den Artikel „Isoliert Ariel
Sharon jetzt“ in den Zeitungen veröffentlicht und zur demokratischen
Entmachtung Sharons aufgerufen.

AM: Ich bin Aktivist, aber kein besonders ausgewiesener. Ich zähle zur
Fußtruppe der israelischen Protestbewegung. In den achtziger Jahren habe ich mich
sehr in der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer „Yesh Gvul“ eingesetzt, zu
deren Gründungsmitgliedern ich gehörte. Über ein Jahr lang war ich Sprecher
der Bewegung und kam wegen meiner Dienstverweigerung im Libanonkrieg ins
Militärgefängnis. Im vergangenen Jahr habe ich mich an den Aktivitäten von Ta’ayush
beteiligt. Ta’ayush ist eine arabisch-jüdische Organisation, die sich um den
Dialog und gemeinsame gewaltfreie Aktionen von Israelis und Palästinensern
bemüht und humanitäre Unterstützung sowohl in den besetzten Gebieten als auch
in Israel leistet. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht, unsere Samstagen
an irgendeiner blöden Straßensperre an der Grenze zu den besetzten Gebieten
stecken zu bleiben und uns mit Polizisten und Militärs herumzustreiten, die
den Bereich für gewöhnlich zur „militärischen Sperrzone“ erklären, nur um uns
Friedensaktivisten zweier Nationen, die wir wirklich an den Dialog glauben,
den Zutritt zur anderen Seite zu verwehren, wo eine andere Gruppe von
Friedensaktivisten sich mit uns treffen möchte.

In den vergangenen 16 Monaten habe ich gemeinsam mit dem Filmproduzenten
Osnat Trabelsi das Programm für eine monatliche Vorführungsreihe
palästinensischer Filme in der Tel Aviv Cinematheque geplant. Alles begann damit, dass wir
im November 2001 gegen die Bombardierung der Antenne des Radiosenders „Voice
of Palestine“ in Ramalla durch das israelische Militär protestierten, indem
wir den Film „This is the Voice of Palestine“ des palästinensischen
Filmemachers Rashid Masharawi zeigten. Ein paar Wochen später war die Station völlig
zerstört. Wir betrachten diese Reihe als Trojanisches Pferd, das wir ins Innere
der israelischen Gesellschaft einschleusen, in der es nur sehr wenige
interessiert, welche Menschen auf der anderen Seite leben, was sie denken und
anstreben und was mit ihnen passiert. Heute bekommt die israelische Öffentlichkeit
Palästinenser nur noch in Nachrichtensendungen zu sehen, die zum öffentlichen
Verlautbarungsorgan der Regierungsstimme geworden sind. Wir möchten das
Publikum mit einer anderen Sicht der Palästinenser bekannt machen – ihrer Sicht
auf sich selbst. Erfolgreich ist unsere Reihe nicht. Die Besucherzahl schwankt
zwischen fünfzig und dreihundert, aber das Programm steht, und wir hoffen
auf weiteren Zuwachs. Macht das einen politischen Aktivisten aus mir?

RA: Ich weiß nicht, ob es eine amtliche Definition des politischen
Aktivisten gibt, aber wenn ja, gehe ich davon aus, dass sie sich ständig
weiterentwickelt. Schließlich gibt es ja verschiedene Möglichkeiten, aktiv zu sein. Dein
Privatleben (jedenfalls das vor der Kamera) und dein Arbeitsleben (hinter der
Kamera) miteinander zu verbinden, ist eine davon. Ich kenne viele Künstler,
die politische Fragen zum Thema ihrer Arbeit machen und auf die Straße gehen.
Deine Arbeit ist dafür das nächstliegende Beispiel.

Selbst dein erster Film, „Deportation“, war eine Art Protest, auch wenn er
eigentlich weniger nach dem aussieht, was im Titel steht, sondern eher nach
einem Austausch von Spionen auf einer Brücke in einem Film, der im Kalten Krieg
spielt.

Ja, ich habe mir alle Mühe gegeben, die in dem Film dargestellte
Deportationsszene völlig anders erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit aussieht.
Während der ersten Intifada hat die Armee viele Deportationen durchgeführt –
außer Landes verbracht wurden palästinensische politische Führer, bei denen
der Staatsmacht klar war, dass kein Gericht sie für ihre Aktivitäten
verurteilen würde. Anstatt sie einzusperren, warf man sie deshalb aus dem Land. Immer
wenn eine solche Szene in den Fernsehnachrichten kam, wirkte sie sehr brutal.
Menschen wurden aus Fahrzeugen gestoßen, man stülpte ihnen Säcke über den
Kopf, die Soldaten trieben, ja warfen sie förmlich auf die andere Seite der
Grenze, wo sie dann ein äußerst lautstarker Unterstützertrupp mit Fahnen und
Beifall erwartete.

Nach meinem Gefühl hatte man um mich herum gegen diese Praxis hauptsächlich
wegen ihrer Brutalität Vorbehalte. Ich beschloss, sie ganz anders
darzustellen, als sie sich in Wirklichkeit abspielte, um die scheinheiligen Reaktionen
auszuschalten und eine moralische Diskussion über die Praxis selbst
anzustoßen, die man im Gang der Ereignisse ganz aus dem Blick verloren hatte. Irgendwie
mag ich es, wie die beiden Typen auf dem Damm (vorgebliche UN-Funktionäre)
dem Ereignis eine Kalter-Krieg-Atmosphäre geben, wie sie einander und zugleich
Gangstern ähneln. Ich war sehr zufrieden mit der Entscheidung, die
vermeintlich neutrale Partei in dieser Szene am fiesesten aussehen zu lassen.

RA: Wie gesagt, bin ich davon überzeugt, dass du die Kunst eigentlich nie
verlassen hast. Deine Video-Installation „Relief“ (1999), die wir im oberen
Saal unseres Ausstellungsraums zeigen, passt nicht gerade in ein Kino. Sie ist
weniger ein Film als vielmehr eine Arbeit für einen Ausstellungsraum. Die
Aufnahme fasziniert aus mehreren Gründen. Erstens zeigt sie in Zeitlupe einen
Moment eines Zusammenstoßes an der Frontlinie zwischen palästinensischen
Menschenmassen und einer Aufstellung der israelischen Polizei, komplett mit
Schutzschilden und Helmen. Dass diese Szenerie heute für viele politische Bewegungen
auf der ganzen Welt zu den gängigen Erfahrungen zählt, macht sie zu einem
Inbild der Zeiten, in denen wir leben. Zweitens handelt es sich zwar um eine
Menschenmenge, aber wenn wir genauer hinschauen und Einzelne herauspicken,
erkennen wir, dass die  Protestierenden zu einem Gutteil Journalisten sein
könnten, da sie Kameras in der Hand halten – oder aber es sind Demonstranten mit
Kameras. Wahrscheinlich spielen sie mehrere Rollen, denn vieles von dem
Material, das wir heute in aktuellen Berichten sehen, stammt nicht von
professionellen Kameraleuten, sondern von Augenzeugen.

AM: Ich nehme an, ein paar der Menschen mit Kameras auf dieser Demonstration
waren schon Protestierende. Zu unseren Aufgaben gehört heute auch, das
Verhalten von Militär und Polizei bei den Demonstrationen aufzuzeichnen, an denen
wir teilnehmen. Wir tun dies, weil die Presse uns im Stich gelassen hat und
Menschenrechtsverletzungen in den besetzten Gebieten sie nicht mehr
interessieren. Daher sind bei jeder Ta’ayush-Aktivität – das kann eine Demonstration
sein, ein Treffen mit den Aktivisten von der palästinensischen Seite oder eine
humanitäre Aktion – ein paar Kameras zur Hand. Die Behörden versuchen uns an
der Erreichung unserer harmlosesten Ziele zu hindern, also filmen wir sie
immer wieder dabei.

Aber die Kundgebung in „Relief“ war keine gewöhnliche Demonstration. Sie
wurde am Nakba-Tag 1998 (dem 50. Jahrestag der palästinensischen Katastrophe) in
Ost-Jerusalem aufgenommen. Die Palästinenser versammelten sich in einer
Straße unweit des Zentrums mit der Absicht, um zwölf Uhr mittags in Erinnerung an
ihren Verlust zwei Minuten stillzustehen, so wie viele Palästinenser überall
in den besetzten Gebieten und auch in Israel es taten und wir (die jüdischen
Israelis) es an unserem Gedenktag tun. Die Polizei war auch deshalb
gekommen, um diesen Akt des Gedenkens und der Solidarität zu unterbinden. Was man auf
dem Video sieht, ist der ruhige Teil der Kundgebung. Später artete sie
dahingehend aus, dass berittene Polizisten in die Menge stürmten, von der einen
Seite mit Steinen geworfen, von der anderen Gummiprojektile (mit Gummi
ummantelte Stahlkugeln, die töten können und es auch taten) geschossen wurden, usw.
Ich drehte dort gerade für „Happy Birthday Mr. Mograbi“, und die Szene ging
mir Monate lang durch den Kopf, bis ich mir das Band griff und noch einmal
ansah. Ich musste es langsamer laufen lassen, damit ich es anschauen konnte. Man
kann es unmöglich in Normalgeschwindigkeit sehen, ohne seekrank zu werden.
Später fiel mir auf, dass sich die Aufnahme umgekehrt abspielen lässt, ohne
dass es wie Rückwärtsbewegungen wirkt, einfach weil keiner dort vom Fleck kam.
Es war wie ein Weizenfeld im Wind: jede Menge Wirbel, aber der Weizen wurzelt
fest im Boden. Angesichts dieser Situation unaufhörlichen
Aufeinanderprallens, in der keine Seite gewinnen konnte, entstand die Idee, die Aufnahme in eine
Endlosschleife umzusetzen.

RA: „How I Learned to Overcome my Fear and Love Arik Sharon“ (1997), „Happy
Birthday Mr. Mograbi“ (1999) und „August“ (2002) sind im Dokumentarstil
gehalten, biographisch und fiktional – alles in einem. Aber der Film, der diesen
dreien vorausging, „The Reconstruction“, folgte einer streng recherchierten,
objektiven Dokumentarlinie. Was hat dich veranlasst, von der Objektivität weg
und hin zu völlig subjektiven Standpunkten zu kommen?

AM: Ich glaube, das alles entstand ganz intuitiv. An einem bestimmten
Zeitpunkt habe ich bei der Herstellung von „Sharon“ gemerkt, dass die „objektiven“
Szenen, die ich aufgenommen hatte, meine Gedanken aus sich heraus nicht
darstellen konnten. Da es wenig wahrscheinlich war, dass die Realität die
Geschichte freiwillig so „erzählen“ würde, wie ich sie sah, wurde mir klar, dass ich
selber es tun musste. Ich brauchte einige Zeit, bis ich begriff, dass
durchweg alle so arbeiten, dass auch „The Reconstruction“ so entstanden war und
darin die wahre Bedeutung besteht, einen (Spiel- oder Dokumentar-) Film zu machen
oder eine Geschichte zu erzählen. Nicht jedem gefällt es, sich auf diesen
Prozess einzulassen oder zu seinem Ausgang zu bekennen, aber so objektiv ein
Film auch erscheinen mag (und „The Reconstruction“ gibt vor, objektiv zu sein,
selbst wenn die darin erzählte Geschichte anders dargestellt wird und eine
andere Bedeutung hervorbringen könnte), er ist immer Endprodukt eines
intensiven Destruktions- und Rekonstruktionsprozesses, der sich im Kopf des
Filmemachers abspielt. Ein Dokumentarfilm ist nie wirklich eingefangene Realität,
sondern eher Ausdruck dessen, was nach Auffassung seines Regisseurs Realität sein
könnte.

Erst sehr viel später wurde mir noch etwas über meine Beweggründe bewusst.
So wie ich ihr begegne, liegt Realität nie als solche vor, sondern immer von
einem Dritten auf eine Weise dargestellt, die er für richtig hält (und ich
spreche nicht unbedingt über Dokumentarfilme). Dort draußen gibt es viele
Kräfte, die ständig die Realität für uns interpretieren, sodass die Bedeutung von
Realität ein Werkzeug in ihren Händen geworden ist, um ihre Agenda zu
propagieren. Mich enttäuschen diese Interpretationen oft, und ich merke, dass die
Realität anders dargestellt werden sollte, und zwar auf eine Weise, die der
Erkenntnis ihres Gleitens und ihrer Ungreifbarkeit besser gerecht wird. Filme zu
machen, hat es mir ermöglicht, dazu beizutragen. Für ca. neunzig Minuten
beziehe ich Stellung und teile allen, die mir Aufmerksamkeit schenken möchten,
meine eigene Erklärung der Welt mit – über den Zeitraum, den das Publikum als
meine „Wirklichkeit“ erfahren kann. Ich hoffe, das wird nicht als Wunsch
verstanden, die reale Substanz der Realität zu verzerren: Nein, ich achte sehr
darauf, nicht mit der Weltgeschichte herumzuspielen. Ich versuche nur, meinen
Bericht zu liefern.

RA: In „August“ spielst du alle drei großen Rollen des Films selbst. Wie
beeinflusst das deine Rolle als Filmemacher?

AM: Ich glaube, als erstes und wichtigstes erwarte ich vom Publikum, die
Filmfiguren von ihrer Aussage für denjenigen zu unterscheiden, der den Film
macht. Unter Umständen lügen die Protagonisten in Dokumentarfilmen, doch heißt
das nicht zwangsläufig, dass der Film nicht ein Stück Wahrheit liefert oder der
Filmemacher ein Schwindler ist. Es stimmt, dass diese Unterscheidung bei mir
ein wenig schwer fallen könnte, weil ich in einigen meiner Filme die
Hauptfigur spiele. Wie jede Figur in jedem anderen Film, dokumentarisch oder nicht,
hat meine Figur aber ihre Gründe, das zu sagen, was sie sagt. Wie bei vielen
Figuren, die nicht unbedingt Regisseur der Dokumentarfilme sind, in denen sie
auftreten, mag der Wahrheitswert dessen, was meine Figur über ihre
Geschichte berichtet, zweifelhaft sein. Meiner Ansicht nach lautet die Frage jedoch
nicht, ob die Figur die Wahrheit sagt, sondern ob derjenige, der den Film
macht, die Wahrheit sagt, das heißt seine eigene, aufrichtige Aussage über die
Realität trifft. Wenn ein Regisseur in seinem Dokumentarfilm eine Sterbeszene
mit einer Aufnahme unterschneidet, in der von außen Regen auf ein Fenster
tropft (was bereits ein Klischee tiefer Trauer geworden ist, eine Metapher, die
die Natur an menschlichen Gefühlen Anteil nehmen lässt und in der Tat, soweit
ich sie kenne, der Natur ein unwahrscheinliches Verhalten unterstellt),
unternimmt er eine Fiktionalisierung „der Wahrheit“. Und trotzdem kann der
Filmemacher nicht anders. So ist seine Art, Realität wiederzugeben und uns zu zeigen,
welch großes Leid der Tod ist: Sogar der Himmel weint mit den Eltern des
Kindes. Wir als Betrachter fühlen uns bei diesem Klischee vielleicht unangenehm
berührt, halten es für Kitsch, überholt, überzogen, aber ich bezweifle, dass
wir in einem Gespräch darüber den Dokumentaristen verurteilen und behaupten
würden, er sage nicht die Wahrheit oder verzerre die Realität. Denn es handelt
sich um eine Erzählkonvention, auch in dokumentarischer Erzählung. Womöglich
sagt dieser vom Klischee infizierte Filmemacher mit seiner Metapher vom
weinenden Himmel die Wahrheit und nichts als die Wahrheit, weil sie so seiner
Wahrnehmung entspricht. Was mich betrifft: Indem ich meiner Figur falsche
Geschichten in den Mund lege, hoffe ich metaphorisch zu vermitteln, wie
Wirklichkeit wahrgenommen werden sollte und meinem Publikum Gelegenheit zur
Auseinandersetzung mit einer umfassenderen Wahrheit, so wie ich sie sehe, zu geben. 
Vermutlich ist es heute trivial, darauf hinzuweisen, dass es keine Wahrheit
oder Wirklichkeit gibt ohne jemanden, der sie erfasst oder wahrnimmt. Wenn
wir über ein Thema, in dem wir keine Experten sind, einen Film (gleich ob
Spiel- oder Nicht-Spielfilm) sehen, ein Buch, eine Zeitung oder eine historische
Untersuchung lesen und wir keine direkten Erkenntnismittel darüber haben, ob
die dargestellte Geschichte mit der „Realität“ übereinstimmt, beurteilen wir
den Wahrheitswert dieser Schilderungen letztlich danach, wie integer der
Berichterstatter wirkt. Für manche mag sich auf diesen Integritätsfaktor
niederschlagen, dass eine Hauptfigur in einem Film unwahre Geschichten über sich und
seine Familie erzählt. Die sollten dann aber auch die Möglichkeit ins Auge
fassen, dass tropfender Regen in einer Sterbeszene die Integrität des
verantwortlichen Filmemachers betrifft, denn beides sind einander gleichgeordnete
Beispiele ein- und derselben Erzähltechnik. Allerdings durchdringt das eine glatt
die Unaufmerksamkeit des Publikums, während das andere sich der Kritik
aussetzt.

RA: Wie du sagtest, steht noch eine weitere Frage zur Debatte, nämlich nach
dem Subjekt der erzählten Geschichte und danach, inwieweit eine im Rahmen der
„großen“ Geschichte erzählte unwahre Geschichte sich auf den Film insgesamt
niederschlagen kann.

AM: Ja, zum Beispiel hat die Frage, ob ich mich in meinem Film wirklich in
Herrn Sharon verliebt habe oder nicht, nichts mit der „Tatsache“ zu tun, dass
Herr Sharon in Israel nicht nach seinen Taten und seiner Ideologie beurteilt
wird. Und davon handelt mein Film. Der Film handelt nicht davon, was in einem
Haushalt in Tel Aviv passiert, sondern davon, was in den Köpfen der Israelis
passiert, wenn sie der politischen Person Sharon begegnen. Und leider wird,
wie mein Film darzustellen versucht hat, Herr Sharon im heutigen Israel nicht
nach seiner Ethik, sondern eher nach anderem beurteilt. So hat sich die
fiktive Geschichte, die ich in dem Film über mich selbst erzählt habe, als
nicht-fiktive Geschichte des Staates Israel bei den Wahlen 2001 und mehr noch den
Wahlen 2003 erwiesen. In diesem Sinn ist der Film, den ich fünf Jahre vor
Herrn Sharons Machtantritt gedreht habe, unfreiwillig zu einem zukünftigen
Dokumentarfilm geworden.

Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, ich hätte nichts für Wahrheit oder
Wahrheitsaussage übrig. Ich habe entschieden Angst davor, dass die Freiheit,
die ich mir genommen habe, dazu benutzt werden könnte, Fiktion mit
Nicht-Fiktion zu vermengen und ein verzerrtes Bild der Welt, der Weltgeschichte und der
menschlichen Werte zu erzeugen. Das ist durch Propaganda aller Art und
Provenienz in der Vergangenheit ausgiebig geschehen und geschieht wahrscheinlich
noch immer. Ich glaube, wir müssen unsere „Integriäts-Sensoren“ in
Alarmbereitschaft versetzen und  diejenigen auszusieben versuchen, die uns in ihrer
Wirklichkeitsinterpretation irreführen. Möglicherweise können wir die eine oder
andere Fälschung nicht dingfest machen, aber ich fürchte, wir haben kein
anderes Werkzeug als dieses.

RA: In letzter Zeit haben einige – insbesondere osteuropäischen – Künstler
ihre persönliche Biographie in eine Arbeit dokumentarischen Stils
eingeflochten. Durch völlig subjektives Herangehen und Untersuchungen von Problemfeldern,
die im rein faktisch orientierten Dokumentarfilm nicht möglich sind, treten
einige unbequeme Fragen hinsichtlich der Beziehung zwischen dem Persönlichen
und dem Politischen zutage. Es gibt kaum etwas Persönlicheres und
Politischeres als die Sicht eines Israelis auf den israelisch-palästinensischen
Konflikt. In „Happy Birthday“ hast du sogar die Geburt Israels mit deiner eigenen
Geburt verknüpft.

AM: In unserer Gesellschaft fällt sehr schnell auf, wie sehr das öffentliche
Leben das private in Beschlag nimmt. Wo man hingeht, was man tut, ist stark
beeinflusst von dem, was wir „die Situation“ nennen. Dem kann man sich
einfach nicht entziehen. Manche suchen sich ein Ausweichventil und wollen von den
politischen Aspekten des Lebens nicht betroffen sein, bis das Leben ihnen
diese Beteiligung aufzwingt. Als politisch engagierter Mensch sehe ich eine
starke Beziehung oder Entsprechung zwischen dem öffentlichen und dem privaten
Leben, zwischen den Moralvorstellungen einer Gemeinschaft und den
Moralvorstellungen des Einzelnen. Zum Beispiel – und diese Diskussion führe ich mit vielen
Freunden, die angeblich ebenfalls humane Ideen verpflichtet sind – glaube ich
Folgendes: Wenn man die Auffassung vertritt, dass die Besetzung beendet
werden sollte und die Siedlungen in den besetzten Gebieten für unsere Gesellschaft
eine Katastrophe bedeuten (im Grunde sind sie Kriegsverbrechen), muss man im
eigenen Privatleben etwas daran tun, auch wenn die politische Wirkung
minimal ist. So kann man es etwa unterlassen, Produkte zu kaufen, die in den
besetzten Gebieten (von Israelis) hergestellt wurden. Wenn ich etwas kaufe,
versuche ich herauszubekommen, wo es erzeugt wurde, und vermeide es, Erzeugnisse von
Siedlern zu kaufen, genauso wie ich es in den Zeiten der Apartheid mit in
Südafrika hergestellten Produkten gehalten habe. Viele meiner Freunde, die sich
selbst als Menschenrechtsverfechter betrachten, halten das für reichlich
übertrieben. Ich nicht. Ich glaube daran, nach den eigenen Idealen und
Moralvorstellungen zu leben.

Vor etwa 16 Jahren beschloss ich, nicht mehr in die besetzten Gebiete zu
fahren. Diese Entscheidung hat mich eine Menge Geld gekostet (ich musste viele
Jobs ablehnen, die mit Filmarbeiten in den besetzten Gebieten zu tun hatten),
und ich machte mir einen Namen als Störenfried, als einer, der gegenüber
einfachen Alltagsvorgängen zu viele Skrupel an den Tag legt. Erst vor sieben
Jahren habe ich die besetzten Gebiete wieder zu betreten begonnen, aber nur dann,
wenn der Anlass mit dem Ziel in Zusammenhang steht, der Besetzung ein Ende
zu machen (und ich meine, dass meine Beziehungen zu palästinensischen Freunden
diesem Ziel dienen).

Wenn ich mir die Filmemacherjacke anziehe, finde ich es völlig natürlich,
das Private mit dem Öffentlichen zu verbinden, und als ich bei der Entstehung
des Sharon-Films merkte, dass ich selber darin auftreten musste, um die
Geschichte, die mir nachging, erzählen zu können, habe ich es einfach getan. Als
später einige glaubten, meine Ehe sei durch das Drehen des Films in die Brüche
gegangen (denn das schildert der Film), nahm ich es leicht und machte daraus
den Ausgangspunkt zu einer politischen Auseinandersetzung.

Teil 2 folgt

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