Rosanne Altstatt on Wed, 14 May 2003 11:17:12 +0200 (CEST)


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[rohrpost] Interview mit Avi Mograbi Teil 2


Teil 2, Fortsetztung von der vorherigen (heutigen) Email

RA: Es gibt ja nun einige Künstler, die ausgeprochen der journalistischen
Tradition verpflichtete Dokumentarfilme machen und sie in einem Kunstkontext
zeigen. Viele davon behandeln aktuell gängige Themen wie zum Beispiel
Genmanipulation oder Globalisierung. Interessant ist, wie die Praxis von Kunst und
Aktivismus aus den sechziger und siebziger Jahren heute angewandt wird – mit
durchwachsenem Erfolg. Bei mangelnder journalistischer Erfahrung und fehlenden
Kenntnissen über die Geschichte des Dokumentarfilms werden künstlerische
Dokumentarfilme schnell fragwürdig. Entstand daraus ein Problem für dein
journalistisches Video „The Reconstruction“ (1999), in dem du den Mord an dem
jüdisch-israelischen Jungen und die mögliche Erzwingung der Geständnisse fünf
verurteilter Palästinenser rekonstruierst? Hat deine Beschäftigung mit „fiktionalen
Dokumentarfilmen“ die Glaubwürdigkeit deiner journalistischen Arbeit
beeinträchtigt?

AM: Als ich an „The Reconstruction“ arbeitete, sah ich mich nicht als
Künstler, der eine journalistische Aufgabe übernimmt. Eigentlich war ich mir zu
diesem Zeitpunkt gar nicht sicher, ob ich überhaupt Künstler bin. Ich war aber
auch kein Journalist: „The Reconstruction“ ist mein einziger journalistischer
Versuch, sollte es denn einer sein. Ich hatte einen Artikel gelesen, den ein
alter Freund, Avigdor Feldman, geschrieben hatte, der Anwalt der fünf wegen
Mordes an Danny Katz Verurteilten, und war sofort davon in den Bann gezogen.
Ich rief ihn an und fragte ihn, ob ich die Bänder mit der Rekonstruktion des
Mordes sehen könne, die in dem Artikel eingehend analysiert wurden. Für die
Sichtung der Bänder, die meistens in arabischer Sprache waren, brauchte ich
sehr lange, weil ich eine hebräische Transkription benutzte und die Einzelheiten
ohne Untertitelung nur schwer mitzuverfolgen waren. Dann lieh ich mir aus
der Kanzlei meines Freundes Mappen, in denen sich die Zeugenausssagen und
Vernehmungen aus den Polizeiakten befanden. Ein paar Monate später war ich ein
Experte für diesen Fall und hatte alles erfahren, was darüber zu erfahren war.
Als ich den Film zu machen beschloss, sah ich ihn weder vom Blickpunkt eines
Journalisten, noch von dem eines Künstlers – ich war ein Wahrheitssucher.
Unaufhörlich ging mir der Fall durch den Kopf, ich war besessen davon, von der
Geschichte und von ihren Folgen. Es ist ein hochkomplexer und sehr schwer
aufzurollender Fall, und ich spürte, dass ich eine Möglichkeit finden musste, die
Geschichte zu erzählen, die den Tausenden von Seiten, die ihn umreißen,
zugrunde lag.

Weil es um Leben und Tod ging – einerseits der tote Jugendliche,
andererseits die fünf Verurteilten, die womöglich für ein Verbrechen ins Gefängnis
kamen, das sie nicht begangen hatten –, musste ich bei der Darstellung der
Geschichte äußerst vorsichtig sein, um keine Fehler zu begehen, die der Möglichkeit
der Wahrheitsaufdeckung schaden könnten. Ich entschied mich, die Geschichte
in nüchterner Ermittlungsmanier zu schildern und hoffte, damit beim Publikum
ein hohes Glaubwürdigkeitsgefühl zu erreichen. Ich wollte, dass die Betrachter
bezüglich des Wahrheitswerts innerhalb des Falles Zweifel hegen, nicht
bezüglich der Glaubwürdigkeit desjenigen, der ihn vorlegt. Aber war das nicht auch
eine Art, die Zuschauer glauben zu machen, was sie da sähen, sei die
Abschilderung der Wahrheit? Wäre es nicht wahrhaftiger gewesen, die Geschichte
weniger nüchtern zu erzählen und dem Publikum die Möglichkeit zu geben, die
Zweideutigkeit des Falles aus der Art und Weise, wie er erzählt wurde, zu
erschließen? Traf ich eine künstlerische Entscheidung, als ich mich bei der
Darstellung des Falls zu diesem Erzählstil entschloss? War es eine journalistische
Entscheidung? Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt eine der beiden war. Ich
wusste, dass ich die Wahrheit sagen musste, und zu diesem Zeitpunkt war dies
die Art, die ich dazu für angebracht hielt. Heute wäre ich wahrscheinlich
anders vorgegangen – nicht dass ich Vorbehalte gegenüber meiner damaligen Arbeit
hätte, aber heute bin ich ein anderer und weiß mehr über die flüchtige Natur
der Wahrheit. Aber es war die Wahrheit, nach der ich suchte, und es ist die
Wahrheit, die so schwer zu fassen ist.

RA: Das Video „How I Learned to Overcome my Fear and Love Arik Sharon“
zeigt, wie du Ariel Sharon nachläufst, um ein Interview von ihm zu bekommen, und
im Zuge dessen von seiner Politik verführt wirst. Es entstand zu einem
Zeitpunkt, an dem ein Machtantritt Sharons in Israel in weiter Ferne zu liegen
schien. Dein Video hat ein überzeugendes Szenario dafür geliefert, wie ein
Politiker eine ganze Nation verführen kann.

AM: Den Film über Herrn Sharon habe ich in Angriff genommen, nachdem ich
seine politische Karriere über Jahre hinweg verfolgt hatte. Das einzige
spezifische Ereignis, das mich in ein „persönliches Verhältnis“ zu Sharon brachte,
war der Libanonkrieg. Als Sharon ihn initiierte  brach, war ich 26 und sah dem
Ende meines Philosophiestudiums an der Universität Tel Aviv (den Abschluß
habe ich nie gemacht) sowie meines Studiums an der Ramat Hasharon
Kunsthochschule entgegen. Ich war einigermaßen aktiv in Anti-Besetzungs-Organisationen, und
der Krieg erwischte mich und meine Freunde genau in dem Augenblick, als wir
eine neue Initiative starten wollten, den Reservistendienst in den besetzten
Gebieten zu verweigern. Als der Krieg begann, nahm diese Initiative eine
andere Richtung und wurde zur Dienstverweigerung im Libanonkrieg umformuliert. Es
dauerte ein Jahr, bis die Armee mich mobilisierte (ich war Reservist) und in
den Libanon entsenden wollte. Ich weigerte mich, im Libanon zu dienen, und
wurde zu 35 Tagen Militärgefängnis verurteilt (was eigentlich eine lustige
Zeit war und nicht so schrecklich, wie man erwarten würde).

Damit fing es an. Oder doch vielleicht schon früher. Herr Sharon ist
wahrscheinlich derjenige, den man ohne Zögern für die lange Reihe jüdischer
Siedlungen in den besetzten Gebieten haftbar machen kann. Diese Siedlungen wurden in
den besetzten Gebieten an strategischen Punkten angelegt, um jederlei spätere
Übereinkunft zwischen Israel und Palästina zu verhindern und den in den
besetzten Gebieten wohnenden Palästinensern (heute auch als Palästinensische
Autonomiebehörde bekannt) das Leben unerträglich zu machen. Und das Zeitgeschehen
zeigt, welch ein (aus rechtsgerichteter Sicht) kluger Schachzug es war, als
Sharon 1977 Landwirtschaftsminister wurde und Geld in die Entwicklung von
Siedlungen und die Beschlagnahmung von Land in den besetzten Gebieten pumpte.

Als ich 1996 ins Auge fasste, einen Film über Sharon zu machen, wusste ich
also, dass ich einen Film über jemanden machen würde, der das Schicksal des
Nahen Ostens verändert hat, jemanden, den ich für einen Kriegsverbrecher hielt
(und noch immer halte), jemanden, den die israelische Öffentlichkeit grausam
falsch einschätzte (anstatt ihn für die Greueltaten vor Gericht zu stellen,
die er als Minister fast jeder auf den Libanonkrieg gefolgten Regierung
begangen hat). Dennoch schien er, als ich meinen Film über ihn plante, auf einem
Tiefpunkt seiner politischen Laufbahn angelangt, und es sah so aus, als würde
der Wahlkampf von 1996 sein letzter sein.

Ich wusste nicht so genau, was ich vorhatte. Ich wollte einen harten
politischen Dokumentarfilm über diesen Mann machen, der mich extrem interessierte –
um nicht zu sagen, von dem ich besessen war. Ich beschloss, ihm beim
Wahlkampf nachzureisen, und hoffte, das Monstrum, das in seinem Körper lebt, werde
sich von selbst offenbaren. Um ihn nicht abzuschrecken, traf ich die
strategische Entscheidung, ihm meine politischen Überzeugungen und das Ziel meines
Films vorzuenthalten. Und noch eine Entscheidung traf ich – ihm so nahe wie
möglich zu kommen, damit ich zur Stelle war, wenn das Monstrum hervorlugte. Diese
beiden Entscheidungen müssen das Schicksal meines Films besiegelt haben.
Indem ich mein wahres Vorhaben verheimlichte, war ich gezwungen, die Rolle von
jemandem zu spielen, der ich nicht wirklich bin, und um ihm so nahe wie möglich
zu kommen, spielte ich diesen Part noch eingehender. Dabei dachte ich, das
sei wie die Rollen, die Enthüllungsjournalisten spielen, wenn sie sich in die
oberen Etagen rechtswidriger Organisationen einzuschleusen versuchen, wodurch
ich an Material herankäme, das mir für mein hartes politisches
Dokumentarvorhaben förderlich wäre. Aber es ergab sich anders, und das konnte ich am
Anfang sicherlich nicht vorhersehen.

Denn im Vorfeld der Produktion wurde mir klar, dass Herr Sharon
seltsamerweise (für einen Politiker) kein Interesse daran hatte, dokumentiert zu werden.
Also dachte ich, ich würde wenigstens einen Film nach Art von „Roger and Me“
(Michael Moore) machen und begann, meine Telefongespräche mit seinem Stab
aufzuzeichnen.
Später erschien ich bei den Versammlungen, auf denen er Reden hielt; nach
einer Weile nahm er mich wahr, und es entstand so etwas wie ein
Politiker-Journalisten-Verhältnis. Normalerweise verbergen Journalisten solche Beziehungen
hinter den Kulissen vor der Öffentlichkeit. Ich brauchte eine Weile, um zu
begreifen, dass genau diese meinen Film ausmachen würden. Das Sharon-Monstrum
ließ sich nie blicken. In allen Wahlversammlungen war er zahm (fast
langweilig), aber ich reiste ihm weiter hinterher und reihte ein kurzes Gespräch an das
andere.

Während dieser ganzen Zeit träumte ich überaus viel. Ich erinnere mich mit
Gewissheit, dass ich von Sharon träumte, von meinem Vater träumte (der ein
Anhänger der Rechten, ein großer Befürworter des Libanonkriegs und der Besetzung
und ein Bewunderer Sharons war und ein paar Monate nach meiner Entlassung
aus dem Gefängnis starb) – ich verlebte scheußliche Nächte.

Es dauerte, bis ich begriff, dass ich nicht den Film machte, den ich mir
gedacht hatte, und dass das Monstrum nicht zum Vorschein kommen würde. Im
Gegenteil: Während ich aus der Ferne dachte, Sharons Person würde meinem
(moralischen und politischen) Bild von ihm gleichen, erschien er aus der Nähe als ein
recht angenehmer Mensch, nett, manchmal witzig, äußerst höflich. All meine
berechtigten Ängste vor ihm fanden in meiner verhältnismäßig nahen Begegnung mit
ihm keine Grundlage. An dieser Stelle setzt die wahre Entstehung des Films
ein. Ich hatte eine gewisse Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass die
eigentliche Geschichte meines Films in der Begegnung mit einem Monstrum,
Kriegsverbrecher und berüchtigten Politiker lag, der die Welt verändert hat (meine Welt
wenigstens, aber auch viele andere Welten), und in der Entdeckung, dass die
Person, der ich gegenüberstand, keineswegs so war, wie ich sie erwartet hatte.

Ein paar Wochen vor dem Wahltag traf ich die einschneidendste Entscheidung
für den Film, nämlich darin die Selbstdarstellung eines Charakters anzulegen,
der mir sehr ähnlich ist und nur wenn er mit der netten Persönlichkeit Herrn
Sharons konfrontiert wird, in ihren Bann gerät und seine moralische und
politische Integrität verliert. Witzigerweise ist das, was ich vor sieben Jahren
über mich selbst als Fiktion formulierte, die „dokumentarische“ Geschichte
dessen, was vor zwei Jahren einer ganzen Nation passierte.

Sobald ich das Prinzip klar hatte, begann ich Szenen zu planen, die diese
Geschichte insofern vervollständigen, als sie nicht nur berichtet wird, sondern
auch im Kamerabild erscheint. So kam ich auf die Szene, in der Sharon im
Vordergrund zum Publikum spricht und ich im Hintergrund sitze, seine Worte
aufzeichne und dabei (vorgeblich in Unkenntnis, aufgenommen zu werden) zustimmend
nicke. Ich wusste genau, was ich wollte: Ich musste ihn und mich in derselben
Einstellung haben, er musste seine Klischees abspulen und ich positive
Gesten dazu machen. Ich sah die Vermischung einer Dokumentaraufnahme mit einem
fiktionalen Inhalt für ein höchst wirksames Mittel an, der fiktionalen
Geschichte Glaubhaftigkeit zu verleihen. Als ich auf der Versammlung eintraf, sagte
ich dem Kameramann, was ich haben wollte, positionierte ihn und mich so, dass
ich mit Herrn Sharon in derselben Einstellung erscheinen würde, und der Rest
geschah, als Sharon das Wort ergriff. Der Erfolg der Aufnahme liegt für mich
darin, dass er mir mitten im Schlüsselteil der Rede den Kopf zuwendet und
lächelt. Ich lächele zurück. Das war natürlich nicht geplant, aber es entstand
aus dem Verhältnis, das er zu dem Charakter hatte, den ich die ganze Zeit über
spielte.

Was ich vorhatte, als ich den Film ins Auge fasste, und wo ich damit
letztlich gelandet bin, sind also zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Und die
Gestalt, die ich meinem Film zu geben beschloss, hat unzweifelhaft noch einmal
eine andere Bedeutung angenommen, nachdem Sharon praktisch aus der
Vergessenheit zum Premierminister des Staates Israel gewählt wurde. Im Entstehungsprozess
des Films wurde mir bewusst, dass ich in mehr als einer Hinsicht einen
anderen Film machte, als ich beabsichtigt hatte. Habe ich deine Frage beantwortet?

RA: Du hast mir einen sehr guten Einblick gegeben, was mit dir persönlich
passiert ist, als du den Film gemacht hast. Ich dachte aber auch an die Dynamik
zwischen Politikern, Medien und Öffentlichkeit. Um die öffentliche Meinung
für sich einzunehmen, muss ein Politiker ja nun erst einmal den einzelnen
Reporter überzeugen, der das Interview führt. Dieser Journalist oder diese
Journalistin hat großen Einfluss, und wenn er oder sie den Politiker sympathisch
findet, steigen die Aussichten einer positiven Vermittlung der Politik dieses
Politikers an die Öffentlichkeit. Bei meiner letzten Frage hatte ich das
Verhältnis zwischen öffentlicher Person und Medien, aber auch das zwischen
öffentlicher Person und Öffentlichkeit im Hinterkopf. Schließlich hast du eine
Doppelrolle gespielt – Journalist und betroffener Bürger.

Aber ich möchte eine weitere Frage stellen: In deiner Arbeit  so
ernst sie auch ist   spielt das Gefühl für Humor und Inszenierung eine
große Rolle, aber deinen letzten Film, „Wait, it’s the Soldiers, I Have to
Hang Up Now“ (2002) kennzeichnet eine gewisse Hoffnungslosigkeit. Könntest du
mir bitte den Inhalt kurz umreißen und mir dann schreiben, warum der Ton sich
verändert hat?

AM: „Wait …“ ist ein 13 Minuten langes Video und besteht aus einer
Kameraeinstellung auf mich beim Telefonieren mit George Khleifi, einem in Ramalla
lebenden palästinensischen Freund, und zwar im vergangenen April während des
Einmarsches in die palästinensischen Städte innerhalb der besetzten Gebiete. Das
Gespräch beginnt, kurz nachdem israelische Soldaten in seine Wohnung
eingedrungen sind und sie durchsucht haben, und endet, als die Soldaten erneut
hereinkommen.

Als der israelische Einmarsch in die palästinensischen Städte einsetzte,
fing ich an, täglich einige Palästinenser anzurufen, die ich in den
wiederbesetzten Städten kenne. Keiner davon war vorher ein enger Freund gewesen, alle
waren Filmemacher. Ich machte mir Sorgen um ihr Wohl und (außer auf
Demonstrationen zu gehen, die noch trostloser waren, weil so wenige Leute auftauchten)
mir fiel nichts besseres ein, als sie anzurufen und mit ihnen zu sprechen,
zuzuhören, was sie erlebten, und mich zu schämen. Die öffentliche Meinung in
Israel sprach sich mehrheitlich für den Einmarsch aus. Mit einem Mal führte ich
erbitterte Auseinandersetzungen mit Menschen, die noch kurz zuvor dem
„Friedenslager“ angehört hatten. Ich merkte, dass ihre Abwehrpanzerung praktisch
nicht zu durchdringen war, und  fragte mich vergeblich, warum sie nicht sehen
wollten, welche Kettenreaktion diesem Einmarsch folgen würden und dass er uns in
keiner Weise aus dem Chaos hinausführen würde. Die Anrufe waren also dazu
gedacht, die Menschen am anderen Ende der Leitung zu unterstützen, waren aber
auch in vielem eine Rettung aus dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, einem
Gefühl der Niederlage in einer Situation, in der ich keinerlei Kraft mehr hatte,
einer Verheerung, die aus unserer (der israelischen Linken) Unfähigkeit kam,
der Geschichte des Nahen Ostens einen Stempel aufzudrücken.

Wie ich nun einmal bin, habe ich die Anrufe auf Video mitgeschnitten (über
fünfzig Stunden Material, das wahrscheinlich nie aufbereitet werden wird). Ich
hatte nichts weiter damit vor, aber seit der Entstehung von „Sharon“ ist mir
das Mitschneiden meiner selbst am Telefon fast zur zweiten Natur geworden.

Mein Ton hat sich in diesem Video nicht gewandelt. Ich glaube, alle meine
Filme lassen einen mit einem quälenden Gefühl schmaler Hoffnung zurück. Was
sich geändert hat, sind die Vermittlungsmethoden. In früheren Filmen konnte ich
eine distanzierte Sicht auf die Situation einnehmen und mir insofern
erlauben, mit den Arten und Mitteln ihrer Darstellung zu spielen. In diesem Video war
ich von der Situation gelähmt. Ich war von ihr in Beschlag genommen und
konnte sie nicht abschütteln. Ich war zu verzweifelt, als dass ich einen Schritt
hätte zurückgehen und nach geeigneten Filtern suchen können, um die
Geschichte durch sie fließen zu lassen. Ich merkte, dass ich nicht in der Lage war,
die Situation zu greifen und zu formen, um über die unmittelbare Situation
hinaus etwas auszudrücken. Genau zu diesem Zeitpunkt ging mir auch auf, dass ich
hier keinen filmischen Bericht von der Realität geben konnte, und so
verbrachte ich viel Zeit nur damit, die Menschen am anderen Ende der Leitung
aufzufordern, das, was sie erlebten, festzuhalten und es der Außenwelt zur Einsicht
vorzulegen. Monate später erinnerte ich mich an dieses eine Gespräch und
begriff, dass seine Kraft nicht daraus rühren konnte, was man sah (insgesamt sieht
man auf diesem Video recht wenig), sondern daraus, was man nicht sieht.

RA: Ich muss noch einmal auf deine Aussage zurückkommen, der Ton habe sich
nicht verändert. Ich glaube, er hat sich verändert. In deinen anderen Filmen
gibt es ein Gefühl von Frustration und Absurdität, aber „Wait …“ ist in der
Form so geradlinig, dass die in den übrigen Arbeiten vorhandene Leichtigkeit
wegfällt. Es gibt kein künstlerisches Moment der Übertragung oder Übersetzung
durch Charaktere, kein Storyboard oder irgendeinen anderen Kunstgriff. Der
Film ist ein dreizehnminütiger Ablauf der jüngsten Geschichte des abgebrochenen
„Friedensprozesses“ von einem Blickpunkt aus, den andere teilen mögen oder
auch nicht. Damit ist er weit entfernt von „The Deportation“ oder „Sharon“. 
Wenn ich es mir so überlege, bildet er insofern geradezu das Gegenteil zur
Video-Installation „Relief“, als er fast keine Abstraktionen enthält.

MA: Das stimmt, aber mein Zustand erlaubte es mir nicht, wie in den anderen
Arbeiten von der Realität zu abstrahieren. Ich war bestürzt, dass meine
Familie (den einen oder anderen sieht man im Hintergrund) und ich ein normales
Leben führten, während dem Menschen am anderen Ende der Leitung Soldaten ins
Haus einfielen. Und diese Soldaten waren unsere Soldaten; wir haben sie dort
hingeschickt. Dass ich nichts zur Veränderung der Situation tun konnte, machte
mich hilflos; deshalb fand ich, dass jeder „kreative“ Umgang mit der Situation
unmoralisch gewesen wäre.

RA: Wie reagiert man in Israel auf deine Arbeit?

AM: Bis vor gar nicht langer Zeit konnte ich die Reaktion auf meine Filme
als enthusiastisch bezeichnen. Ich bekam viele Hochachtungsbekundungen für den
Humor, die Ironie, die Freiheiten, die ich mir beim Filmemachten nehme, sogar
von Politikern (einige meiner politischen Kampfgefährten fanden allerdings,
in „Sharon“ sei schwerlich Ironie zu erkennen, und äußerten Bedenken, der
Film werden Sharon den Weg in die Herzen der Menschen ebnen. Inbesondere
Palästinenser konnten den Film nicht ohne unangenehme Gefühle sehen).

Mit „August“ änderte sich das alles, und ich bekam so gut wie überhaupt
keine Reaktionen. Vor der Ausstrahlung des Films druckte die größte Zeitung des
Landes ein langes Interview mit mir, aber nach der Sendung herrschte absolutes
Schweigen. Niemand schrieb eine Rezension in der Zeitung (nicht einmal in
einer schlechten, dabei gibt es täglich Fernsehkritiken in allen Zeitungen).
Nach und nach kam mir zu Ohren, vielen missfalle mein aggressives Auftreten in
den Straßenszenen des Films. Der Film wurde im April 2002 gesendet, wenige
Tage nachdem ich den Telefonanruf aufgenommen hatte, der sich in „Wait …“
wiederfindet, also tröstete ich mich mit dem Gedanken, der Film habe vielleicht
einen empfindlichen Nerv getroffen und sei ignoriert worden, weil er so
unverblümt daherkommt, aber das diente nur dazu, mir den Lebensmut zu erhalten.
Eigentlich weiß ich nicht, ob der Film beim israelischen Publikum einen Eindruck
hinterlassen hat oder nicht.

RA: Mich überrascht, dass dein Verhalten Missfallen erregt hat. Du hattest
eine Kamera dabei und versuchtest, vor Ort Originalmaterial zu bekommen, wie
jeder Journalist es tun würde. Selbst wenn du dich als Filmemacher und nicht
offiziell als Journalist bezeichnet hast, versuchtest du doch offenbar nur,
die Stellung zu halten und dich nicht von der Staatsmacht aus dem öffentlichen
Raum wegscheuchen zu lassen. Bei denen, die das Recht der Bevölkerung auf
Information zu sichern versuchen, gilt derlei als fast heroischer Akt. Ist das
ein Zeichen dafür, dass in Israel etwas stattfindet, das derzeit in vielen
demokratischen Staaten zu beobachten ist – wachsende Toleranz gegenüber dem
Sicherheitsstaat, weil die Menschen sich so gefährdet fühlen?

AM: Ich vermute, die Leute hatten kein Verständnis dafür, dass ich mich an
den Straßenkämpfen beteiligt habe und zum Ende des Films hin so wurde wie
diejenigen, die ich filmte. Wenn ich die Handlung analysiere, scheint mir, dass
sich das Publikum bis zum dritten Teil über die Vorgänge amüsieren kann. Die
Hausszenen sind seltsam, aber witzig, der Wunsch des Filmemachers, die
Straßenkämpfe zu dokumentieren, ist nachvollziehbar, und das Publikum kann sich mit
ihm identifizieren. Sobald aber im letzten Teil der Filmemacher selbst wie
jene wird, die er dokumentiert, und das Publikum nicht mehr den anderen beim
schlechten Benehmen zuschauen kann, sondern unsereins in beklemmenden
Situationen zusieht, wird der Film ein Film über uns, und das ist in der Tat eine
unangenehme Situation. Ich glaube, wenn das Publikum merkt, dass es durch mein
Verhalten selbstkritisch werden muss, kann es entweder in sich hineinschauen
oder mich wegen meines schlechten Benehmens im Stich lassen. Offenkundig ist
Selbstkritik nichts, was die Menschen im heutigen Israel viel üben.

Februar, 2003
Übersetzung: Stefan Barmann, Köln


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