Rosanne Altstatt on Wed, 14 May 2003 11:17:12 +0200 (CEST) |
[Date Prev] [Date Next] [Thread Prev] [Thread Next] [Date Index] [Thread Index]
[rohrpost] Interview mit Avi Mograbi Teil 2 |
Teil 2, Fortsetztung von der vorherigen (heutigen) Email RA: Es gibt ja nun einige Künstler, die ausgeprochen der journalistischen Tradition verpflichtete Dokumentarfilme machen und sie in einem Kunstkontext zeigen. Viele davon behandeln aktuell gängige Themen wie zum Beispiel Genmanipulation oder Globalisierung. Interessant ist, wie die Praxis von Kunst und Aktivismus aus den sechziger und siebziger Jahren heute angewandt wird – mit durchwachsenem Erfolg. Bei mangelnder journalistischer Erfahrung und fehlenden Kenntnissen über die Geschichte des Dokumentarfilms werden künstlerische Dokumentarfilme schnell fragwürdig. Entstand daraus ein Problem für dein journalistisches Video „The Reconstruction“ (1999), in dem du den Mord an dem jüdisch-israelischen Jungen und die mögliche Erzwingung der Geständnisse fünf verurteilter Palästinenser rekonstruierst? Hat deine Beschäftigung mit „fiktionalen Dokumentarfilmen“ die Glaubwürdigkeit deiner journalistischen Arbeit beeinträchtigt? AM: Als ich an „The Reconstruction“ arbeitete, sah ich mich nicht als Künstler, der eine journalistische Aufgabe übernimmt. Eigentlich war ich mir zu diesem Zeitpunkt gar nicht sicher, ob ich überhaupt Künstler bin. Ich war aber auch kein Journalist: „The Reconstruction“ ist mein einziger journalistischer Versuch, sollte es denn einer sein. Ich hatte einen Artikel gelesen, den ein alter Freund, Avigdor Feldman, geschrieben hatte, der Anwalt der fünf wegen Mordes an Danny Katz Verurteilten, und war sofort davon in den Bann gezogen. Ich rief ihn an und fragte ihn, ob ich die Bänder mit der Rekonstruktion des Mordes sehen könne, die in dem Artikel eingehend analysiert wurden. Für die Sichtung der Bänder, die meistens in arabischer Sprache waren, brauchte ich sehr lange, weil ich eine hebräische Transkription benutzte und die Einzelheiten ohne Untertitelung nur schwer mitzuverfolgen waren. Dann lieh ich mir aus der Kanzlei meines Freundes Mappen, in denen sich die Zeugenausssagen und Vernehmungen aus den Polizeiakten befanden. Ein paar Monate später war ich ein Experte für diesen Fall und hatte alles erfahren, was darüber zu erfahren war. Als ich den Film zu machen beschloss, sah ich ihn weder vom Blickpunkt eines Journalisten, noch von dem eines Künstlers – ich war ein Wahrheitssucher. Unaufhörlich ging mir der Fall durch den Kopf, ich war besessen davon, von der Geschichte und von ihren Folgen. Es ist ein hochkomplexer und sehr schwer aufzurollender Fall, und ich spürte, dass ich eine Möglichkeit finden musste, die Geschichte zu erzählen, die den Tausenden von Seiten, die ihn umreißen, zugrunde lag. Weil es um Leben und Tod ging – einerseits der tote Jugendliche, andererseits die fünf Verurteilten, die womöglich für ein Verbrechen ins Gefängnis kamen, das sie nicht begangen hatten –, musste ich bei der Darstellung der Geschichte äußerst vorsichtig sein, um keine Fehler zu begehen, die der Möglichkeit der Wahrheitsaufdeckung schaden könnten. Ich entschied mich, die Geschichte in nüchterner Ermittlungsmanier zu schildern und hoffte, damit beim Publikum ein hohes Glaubwürdigkeitsgefühl zu erreichen. Ich wollte, dass die Betrachter bezüglich des Wahrheitswerts innerhalb des Falles Zweifel hegen, nicht bezüglich der Glaubwürdigkeit desjenigen, der ihn vorlegt. Aber war das nicht auch eine Art, die Zuschauer glauben zu machen, was sie da sähen, sei die Abschilderung der Wahrheit? Wäre es nicht wahrhaftiger gewesen, die Geschichte weniger nüchtern zu erzählen und dem Publikum die Möglichkeit zu geben, die Zweideutigkeit des Falles aus der Art und Weise, wie er erzählt wurde, zu erschließen? Traf ich eine künstlerische Entscheidung, als ich mich bei der Darstellung des Falls zu diesem Erzählstil entschloss? War es eine journalistische Entscheidung? Ich bin mir nicht sicher, ob es überhaupt eine der beiden war. Ich wusste, dass ich die Wahrheit sagen musste, und zu diesem Zeitpunkt war dies die Art, die ich dazu für angebracht hielt. Heute wäre ich wahrscheinlich anders vorgegangen – nicht dass ich Vorbehalte gegenüber meiner damaligen Arbeit hätte, aber heute bin ich ein anderer und weiß mehr über die flüchtige Natur der Wahrheit. Aber es war die Wahrheit, nach der ich suchte, und es ist die Wahrheit, die so schwer zu fassen ist. RA: Das Video „How I Learned to Overcome my Fear and Love Arik Sharon“ zeigt, wie du Ariel Sharon nachläufst, um ein Interview von ihm zu bekommen, und im Zuge dessen von seiner Politik verführt wirst. Es entstand zu einem Zeitpunkt, an dem ein Machtantritt Sharons in Israel in weiter Ferne zu liegen schien. Dein Video hat ein überzeugendes Szenario dafür geliefert, wie ein Politiker eine ganze Nation verführen kann. AM: Den Film über Herrn Sharon habe ich in Angriff genommen, nachdem ich seine politische Karriere über Jahre hinweg verfolgt hatte. Das einzige spezifische Ereignis, das mich in ein „persönliches Verhältnis“ zu Sharon brachte, war der Libanonkrieg. Als Sharon ihn initiierte brach, war ich 26 und sah dem Ende meines Philosophiestudiums an der Universität Tel Aviv (den Abschluß habe ich nie gemacht) sowie meines Studiums an der Ramat Hasharon Kunsthochschule entgegen. Ich war einigermaßen aktiv in Anti-Besetzungs-Organisationen, und der Krieg erwischte mich und meine Freunde genau in dem Augenblick, als wir eine neue Initiative starten wollten, den Reservistendienst in den besetzten Gebieten zu verweigern. Als der Krieg begann, nahm diese Initiative eine andere Richtung und wurde zur Dienstverweigerung im Libanonkrieg umformuliert. Es dauerte ein Jahr, bis die Armee mich mobilisierte (ich war Reservist) und in den Libanon entsenden wollte. Ich weigerte mich, im Libanon zu dienen, und wurde zu 35 Tagen Militärgefängnis verurteilt (was eigentlich eine lustige Zeit war und nicht so schrecklich, wie man erwarten würde). Damit fing es an. Oder doch vielleicht schon früher. Herr Sharon ist wahrscheinlich derjenige, den man ohne Zögern für die lange Reihe jüdischer Siedlungen in den besetzten Gebieten haftbar machen kann. Diese Siedlungen wurden in den besetzten Gebieten an strategischen Punkten angelegt, um jederlei spätere Übereinkunft zwischen Israel und Palästina zu verhindern und den in den besetzten Gebieten wohnenden Palästinensern (heute auch als Palästinensische Autonomiebehörde bekannt) das Leben unerträglich zu machen. Und das Zeitgeschehen zeigt, welch ein (aus rechtsgerichteter Sicht) kluger Schachzug es war, als Sharon 1977 Landwirtschaftsminister wurde und Geld in die Entwicklung von Siedlungen und die Beschlagnahmung von Land in den besetzten Gebieten pumpte. Als ich 1996 ins Auge fasste, einen Film über Sharon zu machen, wusste ich also, dass ich einen Film über jemanden machen würde, der das Schicksal des Nahen Ostens verändert hat, jemanden, den ich für einen Kriegsverbrecher hielt (und noch immer halte), jemanden, den die israelische Öffentlichkeit grausam falsch einschätzte (anstatt ihn für die Greueltaten vor Gericht zu stellen, die er als Minister fast jeder auf den Libanonkrieg gefolgten Regierung begangen hat). Dennoch schien er, als ich meinen Film über ihn plante, auf einem Tiefpunkt seiner politischen Laufbahn angelangt, und es sah so aus, als würde der Wahlkampf von 1996 sein letzter sein. Ich wusste nicht so genau, was ich vorhatte. Ich wollte einen harten politischen Dokumentarfilm über diesen Mann machen, der mich extrem interessierte – um nicht zu sagen, von dem ich besessen war. Ich beschloss, ihm beim Wahlkampf nachzureisen, und hoffte, das Monstrum, das in seinem Körper lebt, werde sich von selbst offenbaren. Um ihn nicht abzuschrecken, traf ich die strategische Entscheidung, ihm meine politischen Überzeugungen und das Ziel meines Films vorzuenthalten. Und noch eine Entscheidung traf ich – ihm so nahe wie möglich zu kommen, damit ich zur Stelle war, wenn das Monstrum hervorlugte. Diese beiden Entscheidungen müssen das Schicksal meines Films besiegelt haben. Indem ich mein wahres Vorhaben verheimlichte, war ich gezwungen, die Rolle von jemandem zu spielen, der ich nicht wirklich bin, und um ihm so nahe wie möglich zu kommen, spielte ich diesen Part noch eingehender. Dabei dachte ich, das sei wie die Rollen, die Enthüllungsjournalisten spielen, wenn sie sich in die oberen Etagen rechtswidriger Organisationen einzuschleusen versuchen, wodurch ich an Material herankäme, das mir für mein hartes politisches Dokumentarvorhaben förderlich wäre. Aber es ergab sich anders, und das konnte ich am Anfang sicherlich nicht vorhersehen. Denn im Vorfeld der Produktion wurde mir klar, dass Herr Sharon seltsamerweise (für einen Politiker) kein Interesse daran hatte, dokumentiert zu werden. Also dachte ich, ich würde wenigstens einen Film nach Art von „Roger and Me“ (Michael Moore) machen und begann, meine Telefongespräche mit seinem Stab aufzuzeichnen. Später erschien ich bei den Versammlungen, auf denen er Reden hielt; nach einer Weile nahm er mich wahr, und es entstand so etwas wie ein Politiker-Journalisten-Verhältnis. Normalerweise verbergen Journalisten solche Beziehungen hinter den Kulissen vor der Öffentlichkeit. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen, dass genau diese meinen Film ausmachen würden. Das Sharon-Monstrum ließ sich nie blicken. In allen Wahlversammlungen war er zahm (fast langweilig), aber ich reiste ihm weiter hinterher und reihte ein kurzes Gespräch an das andere. Während dieser ganzen Zeit träumte ich überaus viel. Ich erinnere mich mit Gewissheit, dass ich von Sharon träumte, von meinem Vater träumte (der ein Anhänger der Rechten, ein großer Befürworter des Libanonkriegs und der Besetzung und ein Bewunderer Sharons war und ein paar Monate nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis starb) – ich verlebte scheußliche Nächte. Es dauerte, bis ich begriff, dass ich nicht den Film machte, den ich mir gedacht hatte, und dass das Monstrum nicht zum Vorschein kommen würde. Im Gegenteil: Während ich aus der Ferne dachte, Sharons Person würde meinem (moralischen und politischen) Bild von ihm gleichen, erschien er aus der Nähe als ein recht angenehmer Mensch, nett, manchmal witzig, äußerst höflich. All meine berechtigten Ängste vor ihm fanden in meiner verhältnismäßig nahen Begegnung mit ihm keine Grundlage. An dieser Stelle setzt die wahre Entstehung des Films ein. Ich hatte eine gewisse Zeit gebraucht, um zu erkennen, dass die eigentliche Geschichte meines Films in der Begegnung mit einem Monstrum, Kriegsverbrecher und berüchtigten Politiker lag, der die Welt verändert hat (meine Welt wenigstens, aber auch viele andere Welten), und in der Entdeckung, dass die Person, der ich gegenüberstand, keineswegs so war, wie ich sie erwartet hatte. Ein paar Wochen vor dem Wahltag traf ich die einschneidendste Entscheidung für den Film, nämlich darin die Selbstdarstellung eines Charakters anzulegen, der mir sehr ähnlich ist und nur wenn er mit der netten Persönlichkeit Herrn Sharons konfrontiert wird, in ihren Bann gerät und seine moralische und politische Integrität verliert. Witzigerweise ist das, was ich vor sieben Jahren über mich selbst als Fiktion formulierte, die „dokumentarische“ Geschichte dessen, was vor zwei Jahren einer ganzen Nation passierte. Sobald ich das Prinzip klar hatte, begann ich Szenen zu planen, die diese Geschichte insofern vervollständigen, als sie nicht nur berichtet wird, sondern auch im Kamerabild erscheint. So kam ich auf die Szene, in der Sharon im Vordergrund zum Publikum spricht und ich im Hintergrund sitze, seine Worte aufzeichne und dabei (vorgeblich in Unkenntnis, aufgenommen zu werden) zustimmend nicke. Ich wusste genau, was ich wollte: Ich musste ihn und mich in derselben Einstellung haben, er musste seine Klischees abspulen und ich positive Gesten dazu machen. Ich sah die Vermischung einer Dokumentaraufnahme mit einem fiktionalen Inhalt für ein höchst wirksames Mittel an, der fiktionalen Geschichte Glaubhaftigkeit zu verleihen. Als ich auf der Versammlung eintraf, sagte ich dem Kameramann, was ich haben wollte, positionierte ihn und mich so, dass ich mit Herrn Sharon in derselben Einstellung erscheinen würde, und der Rest geschah, als Sharon das Wort ergriff. Der Erfolg der Aufnahme liegt für mich darin, dass er mir mitten im Schlüsselteil der Rede den Kopf zuwendet und lächelt. Ich lächele zurück. Das war natürlich nicht geplant, aber es entstand aus dem Verhältnis, das er zu dem Charakter hatte, den ich die ganze Zeit über spielte. Was ich vorhatte, als ich den Film ins Auge fasste, und wo ich damit letztlich gelandet bin, sind also zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Und die Gestalt, die ich meinem Film zu geben beschloss, hat unzweifelhaft noch einmal eine andere Bedeutung angenommen, nachdem Sharon praktisch aus der Vergessenheit zum Premierminister des Staates Israel gewählt wurde. Im Entstehungsprozess des Films wurde mir bewusst, dass ich in mehr als einer Hinsicht einen anderen Film machte, als ich beabsichtigt hatte. Habe ich deine Frage beantwortet? RA: Du hast mir einen sehr guten Einblick gegeben, was mit dir persönlich passiert ist, als du den Film gemacht hast. Ich dachte aber auch an die Dynamik zwischen Politikern, Medien und Öffentlichkeit. Um die öffentliche Meinung für sich einzunehmen, muss ein Politiker ja nun erst einmal den einzelnen Reporter überzeugen, der das Interview führt. Dieser Journalist oder diese Journalistin hat großen Einfluss, und wenn er oder sie den Politiker sympathisch findet, steigen die Aussichten einer positiven Vermittlung der Politik dieses Politikers an die Öffentlichkeit. Bei meiner letzten Frage hatte ich das Verhältnis zwischen öffentlicher Person und Medien, aber auch das zwischen öffentlicher Person und Öffentlichkeit im Hinterkopf. Schließlich hast du eine Doppelrolle gespielt – Journalist und betroffener Bürger. Aber ich möchte eine weitere Frage stellen: In deiner Arbeit  so ernst sie auch ist  spielt das Gefühl für Humor und Inszenierung eine große Rolle, aber deinen letzten Film, „Wait, it’s the Soldiers, I Have to Hang Up Now“ (2002) kennzeichnet eine gewisse Hoffnungslosigkeit. Könntest du mir bitte den Inhalt kurz umreißen und mir dann schreiben, warum der Ton sich verändert hat? AM: „Wait …“ ist ein 13 Minuten langes Video und besteht aus einer Kameraeinstellung auf mich beim Telefonieren mit George Khleifi, einem in Ramalla lebenden palästinensischen Freund, und zwar im vergangenen April während des Einmarsches in die palästinensischen Städte innerhalb der besetzten Gebiete. Das Gespräch beginnt, kurz nachdem israelische Soldaten in seine Wohnung eingedrungen sind und sie durchsucht haben, und endet, als die Soldaten erneut hereinkommen. Als der israelische Einmarsch in die palästinensischen Städte einsetzte, fing ich an, täglich einige Palästinenser anzurufen, die ich in den wiederbesetzten Städten kenne. Keiner davon war vorher ein enger Freund gewesen, alle waren Filmemacher. Ich machte mir Sorgen um ihr Wohl und (außer auf Demonstrationen zu gehen, die noch trostloser waren, weil so wenige Leute auftauchten) mir fiel nichts besseres ein, als sie anzurufen und mit ihnen zu sprechen, zuzuhören, was sie erlebten, und mich zu schämen. Die öffentliche Meinung in Israel sprach sich mehrheitlich für den Einmarsch aus. Mit einem Mal führte ich erbitterte Auseinandersetzungen mit Menschen, die noch kurz zuvor dem „Friedenslager“ angehört hatten. Ich merkte, dass ihre Abwehrpanzerung praktisch nicht zu durchdringen war, und fragte mich vergeblich, warum sie nicht sehen wollten, welche Kettenreaktion diesem Einmarsch folgen würden und dass er uns in keiner Weise aus dem Chaos hinausführen würde. Die Anrufe waren also dazu gedacht, die Menschen am anderen Ende der Leitung zu unterstützen, waren aber auch in vielem eine Rettung aus dem Gefühl der Hoffnungslosigkeit, einem Gefühl der Niederlage in einer Situation, in der ich keinerlei Kraft mehr hatte, einer Verheerung, die aus unserer (der israelischen Linken) Unfähigkeit kam, der Geschichte des Nahen Ostens einen Stempel aufzudrücken. Wie ich nun einmal bin, habe ich die Anrufe auf Video mitgeschnitten (über fünfzig Stunden Material, das wahrscheinlich nie aufbereitet werden wird). Ich hatte nichts weiter damit vor, aber seit der Entstehung von „Sharon“ ist mir das Mitschneiden meiner selbst am Telefon fast zur zweiten Natur geworden. Mein Ton hat sich in diesem Video nicht gewandelt. Ich glaube, alle meine Filme lassen einen mit einem quälenden Gefühl schmaler Hoffnung zurück. Was sich geändert hat, sind die Vermittlungsmethoden. In früheren Filmen konnte ich eine distanzierte Sicht auf die Situation einnehmen und mir insofern erlauben, mit den Arten und Mitteln ihrer Darstellung zu spielen. In diesem Video war ich von der Situation gelähmt. Ich war von ihr in Beschlag genommen und konnte sie nicht abschütteln. Ich war zu verzweifelt, als dass ich einen Schritt hätte zurückgehen und nach geeigneten Filtern suchen können, um die Geschichte durch sie fließen zu lassen. Ich merkte, dass ich nicht in der Lage war, die Situation zu greifen und zu formen, um über die unmittelbare Situation hinaus etwas auszudrücken. Genau zu diesem Zeitpunkt ging mir auch auf, dass ich hier keinen filmischen Bericht von der Realität geben konnte, und so verbrachte ich viel Zeit nur damit, die Menschen am anderen Ende der Leitung aufzufordern, das, was sie erlebten, festzuhalten und es der Außenwelt zur Einsicht vorzulegen. Monate später erinnerte ich mich an dieses eine Gespräch und begriff, dass seine Kraft nicht daraus rühren konnte, was man sah (insgesamt sieht man auf diesem Video recht wenig), sondern daraus, was man nicht sieht. RA: Ich muss noch einmal auf deine Aussage zurückkommen, der Ton habe sich nicht verändert. Ich glaube, er hat sich verändert. In deinen anderen Filmen gibt es ein Gefühl von Frustration und Absurdität, aber „Wait …“ ist in der Form so geradlinig, dass die in den übrigen Arbeiten vorhandene Leichtigkeit wegfällt. Es gibt kein künstlerisches Moment der Übertragung oder Übersetzung durch Charaktere, kein Storyboard oder irgendeinen anderen Kunstgriff. Der Film ist ein dreizehnminütiger Ablauf der jüngsten Geschichte des abgebrochenen „Friedensprozesses“ von einem Blickpunkt aus, den andere teilen mögen oder auch nicht. Damit ist er weit entfernt von „The Deportation“ oder „Sharon“. Wenn ich es mir so überlege, bildet er insofern geradezu das Gegenteil zur Video-Installation „Relief“, als er fast keine Abstraktionen enthält. MA: Das stimmt, aber mein Zustand erlaubte es mir nicht, wie in den anderen Arbeiten von der Realität zu abstrahieren. Ich war bestürzt, dass meine Familie (den einen oder anderen sieht man im Hintergrund) und ich ein normales Leben führten, während dem Menschen am anderen Ende der Leitung Soldaten ins Haus einfielen. Und diese Soldaten waren unsere Soldaten; wir haben sie dort hingeschickt. Dass ich nichts zur Veränderung der Situation tun konnte, machte mich hilflos; deshalb fand ich, dass jeder „kreative“ Umgang mit der Situation unmoralisch gewesen wäre. RA: Wie reagiert man in Israel auf deine Arbeit? AM: Bis vor gar nicht langer Zeit konnte ich die Reaktion auf meine Filme als enthusiastisch bezeichnen. Ich bekam viele Hochachtungsbekundungen für den Humor, die Ironie, die Freiheiten, die ich mir beim Filmemachten nehme, sogar von Politikern (einige meiner politischen Kampfgefährten fanden allerdings, in „Sharon“ sei schwerlich Ironie zu erkennen, und äußerten Bedenken, der Film werden Sharon den Weg in die Herzen der Menschen ebnen. Inbesondere Palästinenser konnten den Film nicht ohne unangenehme Gefühle sehen). Mit „August“ änderte sich das alles, und ich bekam so gut wie überhaupt keine Reaktionen. Vor der Ausstrahlung des Films druckte die größte Zeitung des Landes ein langes Interview mit mir, aber nach der Sendung herrschte absolutes Schweigen. Niemand schrieb eine Rezension in der Zeitung (nicht einmal in einer schlechten, dabei gibt es täglich Fernsehkritiken in allen Zeitungen). Nach und nach kam mir zu Ohren, vielen missfalle mein aggressives Auftreten in den Straßenszenen des Films. Der Film wurde im April 2002 gesendet, wenige Tage nachdem ich den Telefonanruf aufgenommen hatte, der sich in „Wait …“ wiederfindet, also tröstete ich mich mit dem Gedanken, der Film habe vielleicht einen empfindlichen Nerv getroffen und sei ignoriert worden, weil er so unverblümt daherkommt, aber das diente nur dazu, mir den Lebensmut zu erhalten. Eigentlich weiß ich nicht, ob der Film beim israelischen Publikum einen Eindruck hinterlassen hat oder nicht. RA: Mich überrascht, dass dein Verhalten Missfallen erregt hat. Du hattest eine Kamera dabei und versuchtest, vor Ort Originalmaterial zu bekommen, wie jeder Journalist es tun würde. Selbst wenn du dich als Filmemacher und nicht offiziell als Journalist bezeichnet hast, versuchtest du doch offenbar nur, die Stellung zu halten und dich nicht von der Staatsmacht aus dem öffentlichen Raum wegscheuchen zu lassen. Bei denen, die das Recht der Bevölkerung auf Information zu sichern versuchen, gilt derlei als fast heroischer Akt. Ist das ein Zeichen dafür, dass in Israel etwas stattfindet, das derzeit in vielen demokratischen Staaten zu beobachten ist – wachsende Toleranz gegenüber dem Sicherheitsstaat, weil die Menschen sich so gefährdet fühlen? AM: Ich vermute, die Leute hatten kein Verständnis dafür, dass ich mich an den Straßenkämpfen beteiligt habe und zum Ende des Films hin so wurde wie diejenigen, die ich filmte. Wenn ich die Handlung analysiere, scheint mir, dass sich das Publikum bis zum dritten Teil über die Vorgänge amüsieren kann. Die Hausszenen sind seltsam, aber witzig, der Wunsch des Filmemachers, die Straßenkämpfe zu dokumentieren, ist nachvollziehbar, und das Publikum kann sich mit ihm identifizieren. Sobald aber im letzten Teil der Filmemacher selbst wie jene wird, die er dokumentiert, und das Publikum nicht mehr den anderen beim schlechten Benehmen zuschauen kann, sondern unsereins in beklemmenden Situationen zusieht, wird der Film ein Film über uns, und das ist in der Tat eine unangenehme Situation. Ich glaube, wenn das Publikum merkt, dass es durch mein Verhalten selbstkritisch werden muss, kann es entweder in sich hineinschauen oder mich wegen meines schlechten Benehmens im Stich lassen. Offenkundig ist Selbstkritik nichts, was die Menschen im heutigen Israel viel üben. Februar, 2003 Übersetzung: Stefan Barmann, Köln -- +++ GMX - Mail, Messaging & more http://www.gmx.net +++ Bitte lächeln! Fotogalerie online mit GMX ohne eigene Homepage! ------------------------------------------------------- rohrpost - deutschsprachige Liste zur Kultur digitaler Medien und Netze Archiv: http://www.nettime.org/rohrpost http://post.openoffice.de/pipermail/rohrpost/ Ent/Subskribieren: http://post.openoffice.de/cgi-bin/mailman/listinfo/rohrpost/